Mimosa pudica

Die Nerven sind auf’s Äußerste gespannt. Jedes überraschende Geräusch, ob laut oder leise, lässt zusammenzucken, worauf blitzschnell ein kurzes Huch oder Hach folgt. Hab Acht! Der Atem wird oft angehalten, um sich später mit einem tiefen Stöhnen zu befreien. Was war es, was eben noch durch den Kopf ging? Ein Ruck – und in Sekundenschnelle ist weg, was in Gedankenbildern so lebendig war. Der lauten Medienschreierei kann man nicht mehr ausweichen, eingebildete Katastrophenszenarien ziehen in den eigenen Alltag ein.
In einem Alptraum heute Nacht konnte ich durch beherztes Stoßen mit dem Fuß eine gefährliche, bleiblaue, große Kugel, die auf mich zuflog, aus der Bahn bringen und damit eine große Explosion in meiner Welt verhindern.
Die Mimose zieht ihre fiedrigen Blätter bei zuviel Licht, Temperaturschwankungen und Berührung zusammen. Noli me tangere. So zart sieht sie aus mit ihren Pinselblüten. Sie bilden das Empfindliche dieser Pflanze im wahrsten Sinne ab. Sie scheint mit allen Sinnen zu reagieren und wird die keusche genannt, weil sie sich bei Berührung verweigert.

Mimose in einem Vorgarten in Düsseldorf am Rhein, Fotografie RW, 30. Juli 2019

Freude

Verhangener Himmel, hohe Luftfeuchtigkeit, leichter Wind, kühle Temperatur von gerade 20 Grad am 28. Juli. Am Horizont der Rheindamm, davor liegen auf riesigen Feldern die großen runden Strohballen. Die hohen Leitungsmasten im Dunst können mit dem Säulenstumpf des Orkanopfers nicht konkurrieren.

Spaziergang nach der Hitze in Zons am Rhein, Fotografie RW 2019

In Klimaklausur

Everyday for future haben die Bewohner der kleinen Terrasse auf ein Schild geschrieben. Sie haben ihr Kanu direkt zur Wasserseite ihres Hauses an der Ems liegen. Im Emsland, allerdings etwas weiter nördlich wurde gestern der Hitzerekord von 42,6 Grad Celsius gemessen. Die Aufnahme habe ich letzten Sonntag im kleinen Wallfahrtsort Telgte, unweit von Münster, gemacht. Da war von den Hitzetagen noch nichts so richtig zu spüren. Nun am dritten Fast-40-Grad-Tag in Folge setze ich meine selbst auferlegte Klimaklausur fort. Ich gehe kaum hinaus, nur in den frühen Morgenstunden. Ich arbeite hinter heruntergelassenen Jalousien, von der Außenwelt abgeschnitten, zumindest zur Rheinseite hin. Es ist merkwürdig still. Man hört die Schiffe kaum, kein Auto rauscht vorüber, nur der Ventilator summt leise.
Das Motto der Ems-Ufer-Bewohner gefällt uns und wir wollen unseren kleinen Teil dazu beitragen, aber auch aufmerksam Politik und Wirtschaft beobachten, wie sie mit den ernst zunehmenden Daten der Klimaforschung weiter umgehen werden.

Terrasse zur Ems, Telgte, Fotografie RW, 2019

Hitze

Gestern, am 23. Juli war es kein Problem, sich bis mittags bei «angenehmen» 29 Grad draußen aufzuhalten. Heute aber machen wir schon um 10 Uhr morgens bei 32 Grad die Schotten dicht. 40 Grad soll es heute am Niederrhein werden. Ich erinnere mich, dass ich einmal Mitte der 90er Jahre in Córdoba war und es waren 46 Grad. Da die Räume, die wir besuchten und in denen wir wohnten, kühl oder klimatisiert waren, konnten wir die trockene Gluthitze draußen auf kurzen Wegen ertragen. Über die Straßen waren große, weiße Sonnensegel gespannt. Die Südspanier wissen mit der Hitze umzugehen. Jetzt im Augenblick ist es dort sogar noch ein Grad weniger heiß als bei uns…. Wir Niederrheinländer kennen diese Hitze nicht und sorgen uns. Unsere Städte sind sonnenoffen, mit großen Glasflächen und asphaltierten Betonschluchten gebaut. Südseiten mit hohen Fenstern, Südbalkone und -terrassen waren doch immer ein Qualitätsmerkmal des Wohnens. Da müssen wir uns wohl in Zukunft umstellen.
Ein kurzes Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von heute mit einem Flüchtling, der in Algerien 45 Grad in provisorischen Hütten oder gar Zelten ertragen muss, lehrt uns eine gehörige Portion Demut.

Disteln am Rheinufer bei Düsseldorf, Fotografie RW, Juli 2019
Markasit und Bleiglanz, FeS und PbS, Fundort Norwegen, Sammlung RW, Fotografie RW 2019

Im Wald

Bis zur Ruine eines Gemäuers aus mächtigen Basaltsteinen ist der kleine Junge durch den Buchenwald gelaufen. Jetzt schaut er in Richtung des Fotografen. Breitbeinig steht er da, die Hände in den Hosentaschen. Es muss geregnet haben, denn die Rinde des vorne liegenden Baumstammes glänzt im Licht. Der Junge lacht, scheint stolz zu sein, die Anhöhe zur Ruine erobert zu haben. Der Fotograf ist sein Vater. Die Aufnahme wird etwa 1932 gemacht worden sein. Ich weiß, dass der Junge 1927 geboren wurde. Später wird er begeistert dem Führer folgen und 1943/44 als Luftwaffenhelfer dienen. Später hat er seine Wehrmachts- und Kriegsdevotionalien dem Militärarchiv des Bundes vermacht. Ein von ihm mit Bleistift aufwändig gezeichnetes Hitlerporträt und etliche Bücher nationalsozialistischer Prägung wurden in seinem Nachlass gefunden.

Siegfried G. vor einer Ruine im Wald, Fotografie von Fritz G., Anfang der 1930er Jahre, Archiv RW

Knochen

Sockel für einen Zahn.
Vergangenes Pferd.
Gefundene Form.
Bronzefarben.
Gebrannte Erde und Bein.
Kleines zum Großen.
Ganzen.

2016/19, Keramik, Rheinfund Pferdezahn, 17,5×12,5×9 cm, Fotografie RW 2019

Verwirrte Sinneseindrücke

Es ist so sonderbar, nach zwei, drei Tagen Abwesenheit kamen die Mauersegler wieder. Erst zwei Vögel, dann vier, dann die freche, schrill rufende Horde von mindestens zehn Tieren. Sie setzten ihre rasanten Flüge vor der Rheinfront des Hauses fort, in großen Bögen kreisend, sich verfolgend. War es eine kurze Exkursion, um die Jungen auf den großen Abflug vorzubereiten? War es der Temperaturwechsel in den vergangenen Tagen? Hatten sie noch Jungtiere im Bau hinterlassen? Angeblich können die Vögel in einer Art Hungerstarre einige Zeit ohne Nahrung auskommen.
Waren die Vögel gar nicht weggeflogen, habe ich mich in meinen Beobachtungen getäuscht? Während ich schreibe, sehe ich sie doch so aufgeregt am schönen dunstigen Sommerhimmel fliegen, was wollen sie, was bedeutet das alles? Dann urplötzlich sind sie wieder weg, die Schreie nicht mehr zu hören.
Die Zeit, ihre Flüge genau zu beobachten, müsste ich mir nehmen, alles genau zu notieren: Anzahl, An- und Abflug, Abwesenheit, Richtungen, Rufe.
Zur Zeit lese ich wieder in den «Schriften zur Malerei, Photographie und Naturwissenschaften» von August Strindberg. Den ersten Text in dem Büchlein «Verwirrte Sinneseindrücke» werde ich noch einmal genau studieren: Strindberg bescheibt Irritationen an seiner Wahrnehmung, (besonders der Perspektive!) seinen Gemütszuständen, seinen Empfindungen, seinen Wach- und Nachtträumen rund um und in Versailles und Paris. «Es ist so beruhigend, alles erklären zu können! Das vertreibt die Furcht vor dem Unbekannten!” S. 11 «Mich packt die Angst, und um sie zu bekämpfen, kehre ich zu meinen philosophischen Gedanken zurück, rufe mir analoge Phänomene in Erinnerung, die sich so oft wiederholen, ohne daß man den Grund entdecken könnte.» S. 12

Blick aus dem Thalys auf der Fahrt nach Paris, Fotografie RW 2018
«Verwirrte Sinneseindrücke, Schriften zur Malerei, Photographie und Naturwissenschaften» von August Strindberg, Hrsg. von Thomas Fechner-Smarsly, aus dem Schwedischen und Französichen von Angelika Gundlach, Verlag der Kunst, 1998

Abschied

Vorgestern bemerkte ich, dass die Mauersegler mit ihren lauten Rufen nicht mehr an unserem Fenster vorbei die Dachluke anflogen. Es war ungewohnt still, kein helles Srieee, Sriee, Riiiee beim Jagen in der Luft. Zu Dutzenden schossen sie doch die letzten Wochen in eleganten Kurven auf den Brutplatz zu. Das atemberaubende Fliegen, die Loopings, die rasanten Richtungswechsel in der Luft, das leichte Berühren der Fensterscheibe (das waren die Jungen, die noch übten) sind verschwunden. Gestern wurde es kühl, ein Tief hatte ich sich angekündigt und ich las, dass die Vögel diesen Tiefs vorausfliegen, über die Alpen, zurück nach Afrika. Gestern Mittag flogen dann doch noch vier Vögel über die Wiesen des Rheinufers, ohne die Dachluke anzusteuern. Und abends kam zuletzt einzelner und landete geschickt zwischen Regenrinne und Mauerwerk. Sie verabschieden sich wohl in Raten, die Brutweibchen zuletzt.

Apus apus am Rhein, Fotografie RW, Juli 2019

Herzlichkeit

Welche Dinge passieren, sieht man einen besonderen Menschen in fröhlicher Runde zum ersten Mal? Man lacht sich in die Augen, trifft einen Blick genau, Unsichtbares spinnt sich hin und her. Besondere Phänomene ereignen sich, schwer zu formulieren, ich kann nur sagen – herzliches Wiedererkennen, als sei man von Geburt an schon miteinander verwandt.

Am Rheinufer, Fotografie RW, Juli 2019