Somnambules Konzert zu Johannis

Wie im Traum vernahm ich heute Nacht Vogelgesang.
Kurze, sich wiederholende, sehr variantenreiche Lautfolgen.
Leises Fiepen, lockendes Rufen, Zwirbeln und Zwitschern.
4 Uhr 10 zeigte das Display des Smartphones.
Hatte ich etwa eine Nachtigall gehört?
Den Gesang konnte ich doch aufzeichnen!
So überprüfte ich am Tag das nächtliche Konzert
mit Hilfe meines Vogelstimmentrainers.
Es war nicht die Nachtigall, sondern wieder die Singdrossel.
Ihr hatte ich schon vor einem Jahr am 29. Juni einen Blog-Eintrag gewidmet.
Große Freude über diese Wiederkehr.
Nun, am Johannistag widmen wir diesen Gesang
allen die Johannes, Giovanni, Jan, John, Jean, Juan, João und Hans hießen und heißen.

Les Yeux Clos, 1890, Odilon Redon, Musee d’Orsay, Paris, Fotografie RW, 2017

Viele, mindestens 23 Millionen

Es sind über 60 Millionen handbemalte Sonnenblumenkerne aus Porzellan, hergestellt in Jingdezhen, dem traditionsreichen Zentrum für Porzellan. Ich hatte über diese chinesische Produktionstätte schon in dem mir so wichtigen Buch von Edmund de Waal «Die weiße Straße» gelesen.
Auf einer über 650 qm großen Fläche und etwa 10 cm hoch sind die Kerne im Düsseldorfer Museum K20 ausgelegt. Es ist die Arbeit Sunflower Seeds von Ai Weiwei.  23 Kerne möchte ich mir sehr gerne heraussuchen. Sie individuell markieren. Zumindest auf einer von mir im Museum gemachten Fotografie. Ganz kurz habe ich daran gedacht, sie mir heimlich mitzunehmen. Aber die Wächter passen auf, besonders, wenn man sich bückt, um die Installation von nahem mit dem Handy aufzunehmen. Man könnte ausrechnen, wie schnell/langsam die ungeheure Anzahl schrumpfen würde, nähme jeder Ausstellungsbesucher einen Kern mit. In London war die Installation schon 2010 in der Tate Modern zu sehen. Da konnte man noch über das große Feld gehen. Das erzeugte ein schönes Knirschen wie das Laufen über ein Kiesbett. In London saßen und lagen die Leute im Keramikfeld, ließen die Kerne durch die Finger rinnen. Zu dieser Zeit waren es noch 100 Millionen Stück. Durch die Bewegungen der Besucher wurde dann aber zuviel Porzellanstaub aufgewirbelt, zu ungesund diesen einzuatmen. Heute ist also das Berühren verboten.
Unvorstellbar eindrucksvoll – der Gedanke an die aufwendige Produktion der Kerne – über Jahre hindurch mit der Hilfe vieler Menschen, die jeden Kern mit dem Pinsel berührten.
Jetzt hab ich doch gerade im Netz gesehen, dass sie sogar auf Auktionen verkauft werden und man sie als Anhänger an der Kette tragen kann. Das entzaubert die ganze Sache doch sehr….

23 falsche Kerne, manipulierte Fotografie RW, Mai 2019,
Ai Weiwei – Ausstellung in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf, K20 und K21 bis 1. September 2019
 

Tanz des Lebens

Wir zeichnen, fotografieren, schreiben, ordnen, finden und formen. So wird unsere Sammlung größer und größer. Was bilden wir uns ein!? Woher nehmen wir den Mut? Aber haben wir nicht eine akademische Ausbildung? Examina und Prüfungen mit Bravour gemeistert? Ertragreiche Jahre hinter uns? Wenn wir jedoch sehen, was andere leisten und geleistet haben, worauf sie in unserem Alter zurückblicken können, werden wir ganz klein. Ein paar schöne Ideen sind trotzdem durch unser Tun entstanden und wir steigen heiter auf der anderen Seite der Treppe hinunter.

Front eines Tanzstudios in Saint-Étienne, Frankreich, Fotografie RW, 2019

Zukunft

Alte fiktionale Zukunft, einst
sorgfältig im Film- und Fernsehbaukasten zusammengestellt.
Die Orion landet auf einem fremden Planeten,
die Besatzung wird ein Abenteuer erleben.
Der heldenhafte Commander überwindet
mit klugen Einfällen extra-terrestrische Feinde.
Wieso heißt es eigentlich science fiction?
Bedeutet nicht, was es in wörtlicher Übersetzung sagt?
In Folgendem fühlen wir uns schon von uns selbst überholt:
mit der allgegenwärtigen, universalen Verfügbarkeit von Datenwelten
(Verknüpfung von Bildern, Theorien, Fakten, Emotionen, Macht)
Hier sind die Zukunfts-Wissenschaften herausgefordert.

Raumschiff Orion, wandgroß projiziertes Fernsehbild, Fotografie RW, 2019

Storchenschnabel

Knospen, blühen und vergehen, gefressen werden, zu viel Hitze oder Starkregen aushalten. Stress oder wohlbekanntes Lebensgesetz im Alltag des kleinen Geraniums? Seit zwei Wochen haben wir uns bei instagram angemeldet. 
Vorteil
ist das schnelle Teilen von Gesehenem, Empfundenem, Gefundenem. Als Künstler lassen wir einen Blick auf unsere Arbeit zu. «Freunde» aus aller Welt sehen, was uns beschäftigt. Der Verteiler funktioniert rasend schnell. Gelungen ist es, wenn man seine Seite konsequent aufbaut. Sich nicht verzettelt. Nicht zu viele Themen berührt, ein Gesicht aufbaut, eine individuelle Sprache spricht.
Nachteil
dieses Spiels ist es, sich mit vielen Minuten und Stunden von der Wirklichkeit abzulenken. Der Blick verändert sich: was könnten wir nun fotografieren, filmen, um mit der nächsten Botschaft Eindruck zu schinden. Tausend Ratgeber im Netz empfehlen, wie es geht. Möglichst viele Follower hat man, wenn man den Massengeschmack bedient. Das mögen wir nicht, wir machen mal und sehen, was es bringt… Eine Konkurrenz zu unserer Blog-Aktivität soll es nicht sein!
ruth_und_louis auf instagram

Blühender Bodendecker auf einem Friedhof in Duisburg, Fotografie RW Juni 2019

Luna piena a Venezia

Die Biennale in Venedig haben wir noch nicht besucht. Stattdessen betrachten wir die alte colorierte Photographie aus unserer Sammlung. Im Vergleich mit moderneren Abbildungen der Porta della Carta am Dogenpalast werden wir stutzig. Das Feld über dem Portal ist leer, hier fehlt der steinerne, geflügelte Markuslöwe mit dem vor ihm knienden Dogen Francesco Foscari. In seiner Amtszeit ließ der Doge dieses schöne Portal in die Lücke zwischen Markusdom und Dogenpalast bauen. (1438 – 1443)
Der von Frankreich eingesetzte Revolutionsrat veranlasste 1797 die Zerstörung des Skulpturenschmucks. Erst 1885 wurde er durch eine zeitgenössische Kopie ersetzt. Also ist unsere Photographie ein wenig älter. Mit Stativ und sehr langer Belichtungszeit muss dieses Bild aufgenommen worden sein. Der Vollmond in dieser Position könnte ein Hinweis darauf sein, zu welcher Jahreszeit und in welchem Jahr die Photographie gemacht wurde. Hinten auf der Rückseite des Postkarten-großen Bildes hat jemand in altertümlicher, geschwungener Schrift mit Bleistift notiert: Porta della Carta. Vermutlich stammt dieses Dokument aus dem Besitz unseres Großvaters mütterlicherseits, der einige Reisen zu den klassischen Bildungszielen der Grand Tour unternahm oder dieses zumindest anstrebte. Sicher wissen wir allerdings nur, dass er einmal Rom besuchte. Und geboren wurde er erst 1894.

Traum neuerdings

Winterbild im Juni –
gefrorene Äste hacken,
Feuer machen, Erinnerungen auftauen.
Fraktale Ordnungen –
aus vielen verkleinerten Kopien
seiner selbst ist dieser Baum erfunden.
Im Gehirngewinde Ähnliches
von Wiederholungen scheiden.

Ich wollte mir aus einem Traum der letzten Nächte
einen Namen merken. War kurz wach,
hab ihn buchstabiert, auswendig gelernt.
Morgens war er verschwunden,
es war der Name eines imaginären Ortes.
Gerliter Kansen – Goelniken Jensen – Goenikken Jannsen
Schade, schade, schade,
ich weiß es nicht mehr.
Und es war schon fast 4 Uhr 30,
eine Drossel sang schön, aber sehr leise.

Winterlandschaft, Gysbrecht Lytens, nach 1600, Ausschnitt, Musée des Beaux-Arts de Nancy, Fotografie RW, Juni 2019

Le Voyage

Üppiges Verblühen,
Gewitter und Junisonne,
la mouche sur la rose.
Eine schöne Reise
en France, en Belgique und
glücklich zurück am Rhein.
Nancy, Saint Étienne, Metz, Verviers:
Bilder einer Ausstellung.
Finalement la grande fête,
l’hôte généreux,
la vie en rose.
Das Leben geht vorbei,
Verwandlung findet statt.

Rose im Garten des Gastgebers, bei Verviers, Belgien, Fotografie RW, 11. Juni 2019