Unsichtbar im Dickicht

Abseits der Wege finden die drei Freunde ein gutes Stück Wald, es sieht unberührt aus, sich selbst überlassen. An einer Stelle riecht es intensiv nach Holunder. Sie erkennen Farn, Sumpfzypressen, Buchen und Ahorn. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch, alles scheint zu dampfen. Jetzt regnet es nicht und die Wetter-App zeigt 23 Grad. Die heftigen Regenfälle des vergangenen Tages sehen sie aber dem nassen Boden an. Viele blauschimmerne Libellen kommen vom nahen Gewässer bis hierher und verschwinden im Grün des Waldes.
Die Freunde nehmen sich an die Hand und folgen mit den Augen dem überwachsenen Weg, der sich durch das kleine Tal verliert. Wir kehren um, sagen sie sich, wir wissen nicht, was uns dort hinten erwartet. Doch der älteste verabschiedet sich, geht langsam, jeden Schritt abwägend, durch die tiefe Sohle des Tals, bis er in den hundert Grüntönen des Dickichts unsichtbar wird.

Waldstück im Park von Schloss Dyck, Fotografie RW, 22. Juli 24

Unwahrscheinlich

Der indische Prinz ist zu einer Hochzeit nach Mumbai eingeladen. Es heiraten die Sprößlinge international vernetzter Unternehmerfamilien, deren Reichtum unvorstellbar ist. Ein ganzes Stadtviertel wird abgesperrt, man feiert mindestens 10 Tage lang nach indischem Ritus im eigenen Stadtpalast, der aus mehreren Gebäuden besteht, abgeschirmt durch Sicherheitsbeamte, Zäune und Mauern, die an die nahegelegen Elendsviertel grenzen. Blütenmeere, Kristalllüster, Pfauenwagen, hunderte von reich geschmückten Gästen, angesehene Familien, Influencer, Sportler, Schauspieler, Sänger und Sängerinnen. Der Prinz weiß nicht, wo er die Augen lassen soll. Der dickliche Milliardärsbräutigam reitet an einem Tag auf einem weißem Pferd in die Hallen, an einem anderen werden ihm zwei zarte, mit farbigen Bändern behangene, weiße Kälber vorgeführt. Das Brautpaar wird mit Öl gesalbt, mit Henna bezeichnet, mit Blüten beworfen. Es werden Haarknoten geflochten und die Gesichter mit roten Punkten versehen. Der Bräutigam trägt Ketten mit zentimetergroßen Perlen und Smaragden. Die Braut einen Kragen aus Diamanten, von Stirn und Nase hängen weitere glitzernde Steine. Die Roben des Brautpaars wechseln mehrfach an Tag und Abend. Für alle anwesenden Gäste wird ein Laufsteg vor rosa Seidentapeten in Laubengängen aufgebaut, hier posieren sie für die Kameras und führen ihre Kleider vor. Der indische Prinz hält sich aus dem Blitzgewitter heraus, läßt sich aber doch überreden, auf den Laufsteg zu gehen. Er trägt sein Lieblingsgewand in blassgrüner Seide, der knielange Sherwani aus einem Seidenbouclé mit Brillantknöpfen, die Dhoti Pluderhosen aus knisterndem Seidentaft. Dazu hat er die vierteilige Brosche aus dem Nachlass seiner Urgroßeltern angelegt. Sie stellt eine große Rosenblüte dar, darum drei Libellen im Flug, alles mit Rubinen, Smaragden und Brillanten ausgeführt. Der Prinz weiß, dass die Familie des Gastgebers 50 armen Brautleuten eine kostenlose Hochzeit geschenkt hat. Sind damit die 10 Milliarden, die für die Hochzeit veranschlagt worden sind, ausgeglichen? Allein schon die Gagen für die prominenten Showstars, munkelt man, hätten pro Auftritt bis zu 10 Millonen Dollars gekostet.
So unwirklich alles wie unbegreiflich dies  – und es ist kein Märchen – in meinem Kopf herumbraust, während ich hier schreibe.

Porzellanvase mit bemaltem Keramikkopf und Glasaugen, 1995/2024, Fotografie RW 15. Juli 2024, Sammlung RW

Farbenaufstellung

Die steinalte Sophia beschäftigte sich mit dem Phänomen der künstlichen Intelligenz. Folgende Wörter, zum Teil selbst erfundene, gab sie der KI zur Aufgabe. Sie zählte sie auf und verlangte nach dazu passenden Bildern:
Rotköpfchen, Blauköpfchen, Goldglocke, Türkisnugget, Rotwachs, Farblosglas, Bronzetierchen, Silbertierchen, Blauväschen, Silberglasur, Blauweißglasur, Himmelblauglas, Opalquarz, Katzengold, Marzipanköpfchen, Amethystviolett, Rotgoldmedaillon, Goldmessingplakette, Farblosquarz, Ohrenringrosa, Violettschillerspitze, Goldtombak, Sandfarbenscheibchen.
Über das Bild, was erzeugt wurde, wunderte sie sich nicht. Alles hatte sie so erwartet, wie es erschien.

Zufällige Aufstellung im Atelier zur Vorbereitung einer Einladungskarte, Fotografie RW 8. Juli 2024

Wie kann das sein


dass die Zeit so fliegt, die angefüllten Tage so einfach vergehen, die Träume sich so intensivieren, als gehörten sie mitten in die erlebten Tage hinein?
Die Mauersegler – neulich versprach ich mich und sagte Sauermäkler – wir lachten beide und nahmen es als geflügeltes Wort – fliegen in den letzten drei Tagen so oft und zu so vielen auf die Lücken zwischen Dach und Mauer zu, dass ich glaube, sie üben schon mit ihren Jungen das Einfliegen, das Orientieren, das Wiederfinden für das nächste Jahr. So befürchte ich, dass sie nun schon früher ins Winterquartier starten, sind sie nicht auch früher gekommen? Ich fotografiere und filme ihre rasanten, akrobatischen Flüge, höre ihr schrilles Rufen in der warmen Sommerluft. Kindheitserinnerungen.

Mauersegler, apus apus, der Segler, in Düsseldorf, Fotografie RW, Juni 2024

Auf dem Bauch des Tigers

Diese schöne Geschichte wollte ich schon seit ein paar Tagen erzählen. In einem großen Gartengelände mit einem dunklen fließenden Wasser, braunen, aber bewachsenen Ufern gehe ich auf und ab. Unter Bäumen und Büschen, auch hohen Stauden. Dort weiden Tiere, Ziegen und Schafe mit gedrehten Hörnern und hellbraunem Fell. Große Tiger sind ebenso dort, aber in ferneren Bereichen. Ich habe Angst, dass sie näher kommen. Die Tiger sind hell und träge. Dann sehe ich einen kleinen Tiger an meinem Ufer. Er kommt auf mich zu, wie eine Katze streicht er Runde um Runde. Ich fasse Zutrauen und berühre sein Fell mit einem spitzen Ästchen. Er scheint es zu mögen und so kraule ich ihn mutig mit der bloßen Hand. Das Fell fühlt sich rau und gefettet an. Der kleine Tiger spricht oder deutet, wie er gekrault werden möchte. Er geht dann ins morastige Wasser, taucht wieder auf und legt sich in einiger Entfernung auf den Rücken. Ob er auch auf dem Bauch gekrault werden will? Das Bauchfell ist aschweiß und ich sehe darauf viele bunte Edelsteine in hellen Farben leuchten, die das Tier im Wasser aufgefunden hat. Sie blieben beim Auftauchen im Fell haften. Er deutet an, dass wir (meine Schwester ist plötzlich auch hier am Fluß) davon nehmen dürfen, soviel wir wollen. Das Edelsteinsammeln ist hier im Land verboten, wie ich weiß. Die einzige Ausnahme ist jedoch das Klauben vom Bauch eines Tigers. Ich betrachte die Steine genauer. Es sind Turmaline von Grün bis Rosa, klare Bergkristalle und taubenblutrote Rubine. Ich verstecke meine Ausbeute in der Kleidung. Meine Schwester hat nur drei Steine in ihrer Handfläche – eine dunkelgrüne Turmalinnadel mit Zwillingskristall, einen Rubin und eine Quarznadel. Das Bild ist mir noch so deutlich vor Augen.

Im japanischen Garten Düsseldorf, digital bearbeitete Fotografie RW Mai 2024

La beauté de la fleur

Quelle beauté la nature a inventée ici ! La fleur s’appelle Astrantia. Je ne sais pas comment exprimer mon admiration pour cette grâce et cette beauté. Cette fleur a tellement de détails raffinés. Et caché dans la fleur, il y a un petit pou. Qui l’a vu ? J’ai ressenti le besoin d’écrire en français, car la fleur est aussi élégante que cette langue. J’ai trouvé un poème de 1729 sur cette belle fleur. Albrecht von Haller l’a observée dans les Alpes. Le poème ne sera évidemment pas traduit en français.

„Dort wirft ein glänzend Blatt, in Finger ausgekerbt,
auf einen hellen Bach den grünen Widerschein.
Der Blumen zarter Schnee, den matter Purpur färbt,
schließt ein gestreifter Stern in weißen Strahlen ein.“
Albrecht von Haller, 1729

Große Sterndolde im Garten meiner Schwester, Fotografie RW, 13. Juni 2024, mein Text wurde ins Französiche übersetzt mit KI-Assistent Deepl.

Bilder sehen und gehen

Am Meer wird der Himmel groß. So wie das Foto mit Weitwinkel und Farben übertreibt, kann es doch das Erlebnis der Wirklichkeit niemals erreichen. Aber es kommt dem nahe. Wie ich mich erinnere, war der Himmel weit und hoch, aber nicht ganz so ultramarin. Die Dünen schienen mir näher und viel höher, das Meer größer und wilder. Der Weg am Strand entlang von Bergen aan Zee bis Egmond aan Zee dauert etwa eine Stunde, bei Gegenwind etwas länger. Schritt für Schritt erobere ich mir die Strecke, die Dinge in der Ferne kommen nur ganz langsam näher. Meine Schrittlänge halte ich klein und gleichmäßig, so dass der Rhythmus stimmt. Mit dem Atmen und dem Herzschlag gehe ich konform.

Am Strand nahe Bergen aan Zee, Holland, Fotografie RW, Juni 24

Jeder winzige Kiesel

Beim Besuch des großartigen Anwesens mit prächtiger Villa und weitläufigem Park nahmen die Sohlen meiner Schuhe winzige Steinchen der Kieswege auf. Weiß waren sie allesamt. Und ich formulierte am Morgen des folgenden Tages den Satz – Jeder winzige Kiesel ist richtig an seinem Platz. Das war mir ein tröstlicher Spruch, den ich mir fortan merken werde als Wertschätzung einer jeden Sekunde meines Lebens.

Am Rheinufer gefundene Scherben aus Keramik, Glas und Porzellan auf Florentiner Papier, gekauft in München bei CARTA PURA. Fotografie RW, Mai 2024

Gefährliches Monster

Es gibt wohl Menschen, die in Träumen Dinge voraussehen, beziehungsweise zeitgleich zu Ereignissen von ähnlichen Dingen träumen. Ich erlebe oft Ereignisse, die sich mit anderen folgenden wunderbar zusammenfügen. Habe ich an jemanden gedacht, so finde ich in nächsten Momenten einen längst vergessenen Gegenstand dieser Person. Das Kurioseste aber ist, dass ich einen Traum hatte, der wie ein Beispieltraum für alles steht – vier Momente in einem Traum.
Da war das Finden und Aufsammeln großer wunderbarer Kristalle, hell und in zarten Farben, aus dem Erdreich an Böschungen und Abhängen.
Da waren die Begegnungen, das Feiern und Sich-Umarmen auf großen Festen, so dass ich im Traum zu einem Freund sagte, das ist ja wie früher.
Da war ein indisches Kind in Landestracht, dem ich sagte, ich bin doch auch ein Kind, um ihm die Angst vor der fremden Person zu nehmen und ein lustiges Gespräch mit ihm führen zu können.
Aber dann war plötzlich auch ein Blick aus dem Fenster. Wir hörten die Tiere rufen, es sagte jemand, die Tiere schreien schon, bevor die Katastrophe beginnt und ich sah draußen im dunklen Sturm die Berge wanken.
Dann bin ich aufgewacht.

Neozoen, große Schildkröte am Niederrhein, Fotografie RW 20. Mai 24

Die Reise

Von hier aus sieht man die 23 Zumba-Tänzer kaum, die auf dem anderen Mainufer hin und her springen. Es regnet nicht mehr. Das Städel wirbt mit seinem neuen Roof-Top. Wir gehen den Weg zum Bahnhof zu Fuß und da wir noch Zeit haben am Ufer des Mains entlang. Wir sehen eine große alte Rotbuche, Kastanien mit verblühten Fruchtständen, eine amerikanische Eiche mit schönen Fingerblättern, so frisch und so leicht. Sie kann dem ungewöhnlich großen Gingko-Baumpaar mit den Herzhandblättern Konkurrenz machen. Dazwischen ehrwürdige Nadelbäume aus dem nahen Osten, die sich ihre graugrünen Triebe auf die Zweigenden gestickt haben. Ein so schöner Ufergarten – dem etwas in die Jahre gekommenen Hochhaushotel ist das alles gleich – es blickt gelassen über den die Mainufer verbindenden Holbeinsteg, der im Vergleich zu ihm etwa dreißig Jahre jünger ist.

Unter dem Holbeinsteg in Frankfurt, Fotografie RW, 18. Mai 2024