Aus dem Schattenreich

Als ich ihr zum ersten Mal begegnete, war direkt eine Verwandtschaft da. Sie sprach freundlich und hörte zu. Wir trafen uns im Freundeskreis nicht regelmäßig, aber doch so oft, dass die Vertrautheit blieb. Wir tauschten uns aus über Leben und Sterben. Freude hatten wir über einen gleichen Hausnamen in der nahen Familie. Sie liebte die Natur und war stark. Sie konnte Judo und war unglaublich fein. In den Künstlerateliers war sie ein willkommener Gast. War man bei ihr eingeladen, gab es Gutes zu essen und zu trinken.
Die Zeit ist kurz und ihre Stimme höre ich noch.

Atelierfest in Düsseldorf, invertierte Fotografie RW, September 2019

Frühlingsverwirren

Wenn ich aus dem Rheinfenster blicke, sehe ich an den beschnittenen Platanenkronen erste Triebe. Ein grünes Blattpärchen zittert und flackert wie ein Falter im Wind. Es ist heute stürmig, wieder sehr kalt und doch denke ich an die Mauersegler, die vielleicht schon, aus Afrika kommend, kurz vor den Alpen ihre hohen Flüge proben und auf wärmeres Wetter warten. Dann reisen sie bis zu mir an den Rhein. Den Nistplatz unter dem Dachvorsprung kennen sie ja.

Geburtstag der Freudin an einem sonnigen Apriltag. Fotografie RW, 14. April 2024

Historie und Jahrmillionen

Gestern Abend besuchte ich den neuen Standort meiner Arbeit Sternberger Kuchen mit Fluorit. Sie hat ihren Platz gefunden an einer großen Fensterfront, die das weite Atrium eines besonderen Hauses umschließt. Das einstöckige, von außen schlichte Haus wurde 1953 von dem Architekten Hans Schwippert (1899 – 1973) erbaut. Hier hatte der ehemalige Direktor der Kunstakademie Wohnung und Atelier. Im Atrium findet man noch die Original-Bodenfliesen mit zum Teil farbigem, floralen Dekor. Viele Details des Hauses sind erhalten – ungewöhnlich hohe, schmale Türen verbinden die um den Innenhof gelegenen Räume. Die Türklinken sind sehr niedrig angebracht. Auch die originalen Dreh- und Kippschalter für das Licht befinden sich knapp unter Hüfthöhe. Das Haus, das durch die Architektur des Bauhauses (Schwippert war mit Mies van der Rohe gut befreundet) geprägt ist, steht auf einem Eckgrundstück nahe des Rheins und hat zu den Straßenfronten nur kleine Fenster, währen die Fensterfront rund um das Atrium fast die volle Höhe des Hauses erreicht.
Wir waren eingeladen zum Abendessen, der Hausherr und Gartenfreund hatte bis kurz vor unserem Eintreffen noch im Vorgarten seine neuen, seltenen, englischen Rosen eingepflanzt. Die großen gelbroten Tulpen und weißen Narzissen im Innenhof, die er schon bei Einzug in hohe Töpfe gesetzt hatte, waren voll aufgeblüht – kurz vor dem Verblühen. Der Tag unseres Besuches war ungewöhnlich warm, so dass wir uns – sehr sommerlich – im Atrium zu einem Aperitif setzen konnten.
Nun schaut meine Arbeit in das Atrium und gleichzeitig in den Essraum auf die große Tafel. Darauf lagen zehn große Zitronen in langer Reihe in der Mitte des Tisches. Auf Mallorca selbst gepflückt und mitgebracht. Eine Tarte au Citron gab es dann folgerichtig zum Nachtisch.
Das ca. 23 Millionen Jahre alte Sandgestein mit den zahlreichen Fossilresten, bekrönt mit einem zitronengelben Fluorit, ist nicht mehr meins und behauptet sich jetzt in dem 50er-Jahre-Haus. Unsere Gastgeber sind noch dabei, ihren in Jahrzehnten gesammelten Kunstwerken geeignete Plätze zu geben, erst vor ein paar Monaten sind sie in das schöne Haus eingezogen. Das Holzrelief mit dem Fede-Motiv von Stephan Balkenhol, zwei ineinander greifende Hände, direkt an der Wand hinter dem Esstisch, kam mir gestern Abend vor wie ein Zeichen der Vergewisserung von Dauer und Treue, die über Millionen Jahre hält. Und – ich trug gestern Abend, ohne zu wissen, dass ich hier auf den Balkenhol treffen würde, meinen goldenen Ring von 1830, der das Fede-Motiv auf seinem Mittelstück trägt – darunter ein kleines Geheimfach.

«Sternberger Kuchen mit Fluorit» in neuer Umgebung, Fotografie RW, 6. April 2024
Die Arbeit ist auch abgebildet im Buch «Kostbare Sockel für seltene Dinge», Salon Verlag Köln 2021

Ostern

An Ostern kam der steinalten Sophia ein merkwürdiger Gedanke – der wievielte Frühling ist es, den ich erlebe? Im August bin ich geboren, ein Sommerkind, das den ersten Herbst und Winter erlebt und dann erst den Frühling. Schon oft hatte sie behauptet, dass der Herbst ihre liebste Jahreszeit sei, aber nun war es deutlicher als je zuvor – jetzt war es der Frühling. Begeistert nahm sie auf jedem Spaziergang die zarten Spieren und die Schneebälle der weißblühenden Büsche wahr. Die rosafarbenen Mandel- Pfirsich- und Kirschblüten waren dieses Jahr besonders üppig. Durch die noch unbelaubten Hecken eines Vorgartens am Rhein hatte sie einen dunkelroten Magnolienbaum neben lachsrosa Kamelienbüschen entdeckt. Narzissen, Tulpen, Hyazinthen, Löwenzahn, Gänseblümchen und Hornveilchen ordnete sie in ihrem Gedächntis nach Farben und Größen. Das war ihr ein willkommenes Training der Erinnerung. Dann ist es nun mein zweiundsiebzigstes Osterfest, wenn ich mich nicht vertan habe, dachte sie. So ein Wunder – ich werde älter und älter, aber die Knospen, Blüten und Blätter sind jedes Jahr einzigartig und frisch, alle sehe ich zum ersten Mal. Und jedes Jahr auf’s Neue.

Gedeckter Frühlingstisch für die Gäste, invertierte Fotografie RW, kurz vor Ostern 2024

Karwoche

Im Vorgarten eines unbewohnten, großen Hauses am Rhein entdeckte die steinalte Sophia mannshohe Buchsbaumbüsche. Der Zünsler war auch hier zu Gange und manches Blättchen hatte sich blassbraun verfärbt und weiße Spinnereien verklebten die Ästchen. Sophia suchte sich ein paar noch gesunde, sehr kleine Zweige heraus und riss sie ab. Dann ging sie zur nahen Kirche. Durch den Seiteneingang betrat sie das Gebäude. Hier war das Weihwasserbecken leer. Sie bekreuzigte sich und ging unter die Orgelempore. Von weitem schon sah sie, dass das große Weihwasserbecken gefüllt war. Sie tauchte die Fingerspitzen hinein und bekreuzigte sich zum zweiten Mal. Dann nahm sie die Buchsbaumzweige und ließ sie ganz ins Wasser hinab. Danach schwenkte sie die Zweige in einem dritten Kreuzzeichen über dem Becken – jedes geweihte Tröpfchen fiel zurück. In der Bank vor dem heiligen Antonius blieb sie noch eine Weile sitzen und freute sich, dass er ihr geholfen hatte, die Buchsbaumbüsche zu finden. Am Palmsonntag war sie nicht in der Kirche gewesen. Auf dem Heimweg am Rhein entlang entdeckte sie die blutroten Knospen der Zierquitte, zwischen den Blüten waren lange spitze Dornen.

Japanische Zierquitte am Rhein, Buchsbaumzweige und Weihwasserbecken in St Antonius, Düsseldorf-Oberkassel, Fotografie RW, Karwoche 2024

Glückliche Farben

Die steinalte Sophia war auf der Straße gefallen, direkt auf das Gesicht. Mit den Händen hatte sie sich nicht abstützen können – es ging blitzschnell – sie sah die Bordsteinkante rasant auf sich zukommen und im selben Bruchteil des Moments dachte sie: Das wird schlimm. Aber sie hatte großes Glück, es war nichts gebrochen und es gab keine Blutungen im Gehirn. Die gute Nachricht hatte sie nach langen angsterfüllten Stunden mit zahlreichen Untersuchungen durch den Unfallchirurg erfahren. Die Marmorierungen im Gesicht, besonders die Monokelhämatome in allen Rot- Gelb- Blau- und Grüntönen sah sie selber nicht, nur der Spiegel berichtete ihr ab und zu noch von dem dramatischen Ereignis, das immer blasser wurde.

Doppelter Regenbogen am Rhein, Fotografie RW 16. März 2024

Parismonamour

Paris – die Seine ist über die Ufer getreten – das sah ich noch nie – auch Théodore Rousseau sah ich zum ersten Mal im Petit Palais – so üppige Baumzeichnungen – fusain en papier blanc – oh – zum ersten Mal dans le jardin du Palais – le ciel bleu – die japanischen Kirschen blühen am grün umstandenen Teich – goldene Figuren hoch auf den Portalen bekrönen das Bild.

An der Seine, Blick auf den Pont Royal bei Hochwasser, Fotografie RW, 7. März 2024

Erinnerst du dich? Ein lebendiger Gruß aus der anderen Welt.

Kann ich mich als Verstorbene an Momente erinnern, die ich als Lebende in die Liste des Erinnerungswürdigen aufgenommen hatte? So dachte ich, als ich heute auf dem Rhein das Schiff mit dem Namen ALTER EGO sah –  ein banaler, alltäglicher Moment, aber ein lebenswerter. Vermag ich auf dies alles zurückzublicken aus dem Totenreich? Auch das Rotkehlchen heute auf dem Friedhof – es kam in meine Nähe, schenkte mir auf dem noch kahlen, aber knospenden Ast einen kleinen Gesang. Ist dieser schöne Moment für mich als Tote wiedererlebbar? Zur mir kam auch ein Rotkäppchen (er konnte sich den Namen des Vogels nicht merken) durchs offene Fenster ins Atelier geflogen, sagt der gerade eintretende Freund. Es setzte sich ganz oben auf das hohe Wandregal mit den Arbeiten der verstorbenen Künstlerin – es war wie der Gruß aus einer anderen Welt.
Merkwürdig, wie ähnlich wir empfinden – das liegt wohl am Frühling.

Schädel, Arbeit von Katharina Fritsch in den historischen Räumen des Lenbachhauses in München, Fotografie RW, 29. 2. 2024

Zuviel des Guten am seltenen Tag

Dicke Blutstropfen, gemacht aus kostbaren Rubincabochons, quellen aus dem grünen Kopf und kleinere aus dem blassen Leib des Drachen, den der heilige Georg tötet. Das Untier liegt auf dem Rücken, sein Panzer, seine Krallen, sein Schweif sind mit Smaragden und grüner Emaille bedeckt. Aus der Halswunde perlen Blutströme von Rubinkristallen. Das Pferd des Ritters ist aus rosafarbenem Chalzedon geschnitzt, sein Harnisch weiß emailliert und über und über mit Rubinen und Diamanten geschmückt. Die Rüstung des Ritters ist blau emailliert, gerahmt in Gold und unzähligen Diamanten. Aus klarem Bergkristall glänzt das Schwert des Ritters. Die prachtvolle Gruppe thront auf einem ebenso üppig verzierten, goldenen Reliquiar.
Ich wusste in der Schatzkammer der Münchner Residenz nicht, wo ich meine Augen lassen sollte. Der Blick schmerzte ob der vielen kostbaren Wunderwerke. Die Diamanten funkelten bei jeder Bewegung des Auges. Die geschnittenen Achate, der durchscheinende Chalzedon, die Rubine, Saphire, Smaragde, das Gold, die feinen Emailarbeiten, die schimmernden Perlen und Muscheln, die Schnitzereien aus Elfenbein und Korallen wollten alle wahrgenommen werden. Wie konnte ich meinem Gehirn sagen, schau alles in Ruhe an, nacheinander, du musst nicht alles auf einmal erfassen. Es ging aber nicht so, wie ich es wollte. Alles schien nur für mich zu sein, Distanz war verschwunden, alles nur für mich. Und nicht nur, weil ich keine Zeit mehr hatte, von Vitrine zu Vitrine zu gehen – der Zug fuhr in zwei Stunden und ich musste noch von der Residenz zum Bahnhof gehen – auch in fünf Stunden hätte ich den Abstand nicht zurück gewonnen. Der Zähler des Smartphones kam an diesem seltenen Tag auf 18795 Schritte.

„Die Georgsstatuette wurde, wahrscheinlich nach Entwurf von Friedrich Sustris, als Reliquiar für eine Sankt Georgs-Reliquie geschaffen, die 1586 Erzbischof Ernst von Köln seinem Bruder Herzog Wilhelm V. nach München sandte. Im 17. Jahrhundert wurde die Statuette bei hohen Feiertagen auf dem Altar der Reichen Kapelle ausgestellt. Das bärtige, aus Buchsbaumholz geschnittene Gesicht des Heiligen hinter dem beweglichen Helmvisier trägt die Züge des Stifters, Herzog Wilhelms V.
Statuette des Ritters Sankt Georg (Gold, Email, vergoldetes Silber, Diamanten, Rubine, Smaragde, Opale, Achat, Chalzedon, Bergkristall und andere Edelsteine, Perlen; Höhe 50 cm) München, zwischen 1586 und 1597″

Zitat: https://www.residenz-muenchen.de/deutsch/skammer/bild08.htm
Fotografie RW vom 28. 2 2024, gewidmet dem 29. 2. 2024

Verlockende Falle

Er ist ein Dieb aus dem eigenen Hause, genannt Kurator, der nun doch wahrlich die Pflege des ihm Anvertrauten zur Aufgabe hat. Was macht er, er nimmt und steckt in die eigene Tasche. Er hat ja Zugang zu Kisten und Kästen, zu Regalen und Schubladen. Er ist es, der regristiert, ordnet, fotografiert – sämtliche Bestandteile der Sammlung, seien sie noch so winzig. So fällt keinem auf, was er genommen hat. Zu Hause betrachtet er die gestohlenen Gemmen, Kameen und goldenen Spangen in seinem Keller. Dann ruft er Quellen aus dem Darknet auf und verhökert die Sachen, bis sie im Kunstmarkt wieder auftauchen und ein sich wundernder Angestellter eines Auktionshauses alles meldet.
Der indische Prinz ist froh, dass er nicht selbst unbeschränkten Zugang zu wertvollen Sammlungen hat. Wie verlockend ist es wohl, sich in Kellern und Depots zu bereichern? Er setzt sich vor seinen schönen alten Schrank, der geöffnet alle Schätze preisgibt. Er betrachtet lange die glänzenden und leuchtenden Reihen, zählt noch einmal alle Ringe und ist zufrieden.

Das Britische Museum meldet gestohlene Objekte, Täter ist wohl ein Mitarbeiter. «Die Mehrzahl der betroffenen Gegenstände seien kleine Stücke gewesen, die in einem Lagerraum einer der Sammlungen des Museums aufbewahrt wurden. Unter anderem gehe es um Goldschmuck, Juwelen aus Halbedelsteinen und Glas – teilweise aus dem 15. Jahrhundert vor Christus bis zum 19. Jahrhundert nach Christus. Keines der Objekte sei in letzter Zeit in der Ausstellung gewesen, die Gegenstände seien vorrangig für Forschungszwecke aufbewahrt worden.» Quelle Tagesschau August 23
Zwei Köpfe aus Polymer-Clay auf antikem Rächergefäß aus China, Sockeobjekt RW, Sammlung RW, invertierte Fotografie RW, 24. 2. 24