«Stromstoß vom anderen Stern»

In die in Ton geknetete und bei gut 900 Grad gebrannte Landschaft ordnete ich eine unspektakuläre Bergkristallgruppe aus Brasilien, das obere Ende eines orientalischen Kerzenleuchters (auf dem Kopf stehend) und ein am Rhein gefundenes Ästchen in gegenseitiger Zuneigung an. Dann entnahm ich aus der Schatulle des indischen Prinzen vier goldene Ringe. Zwei davon hängte ich auf den Ast und zwar die mit den solitären Diamanten – einer davon im alten Peruzzi-Schliff, leicht aus der Ringschiene hochstehend, der andere in einem anderen Altschliff, vertieft in einer mit Sternenfurchen versehenen Grube gefasst, antique gypsy style, sagt man. Mit den zwei weiteren Goldringen bekrönte ich das Messingglöckchen, unten der breite schwere Goldreif, darüber der goldene Bandring mit den gefassten Edelsteinen – Saphir, Diamant, Rubin und Smaragd. In der Ringschiene gibt es eine Gravur – Vater, Mutter und ein Datum mit der Quersumme 23.
Diese Korrespondenz provoziert in meinem Kopf eine Spannung, die ich eigentlich schon kenne. Und soll sie sich doch bitte entladen und zwar so plötzlich und unvorhergesehen, dass mein Kopf zur Seite fliegt und ich den Mund weit aufreiße. Nach dem Ruck streiche ich die Haarsträhne wieder glatt, die sich gelöst hatte.

Headline von der Autoseite in der FAZ und neue Kombination, Sammlung RW, Fotografie RW 10. September 2023

Im fremden Garten

In der Früh verfolgen sich zwei Eichhörnchen nur zum Spaß auf den borkigen Ästen der kaukasischen Flügelnuss. Die grünen Halsbandsittiche kreischen, aber wenig aufdringlich. Ein Morgentaunebel bildet den Hintergrund. Die jungen Fruchtstände am Baum hängen sehr altmodisch wie Christbaumlametta unter den gefiederten Blättern. Eine Taube ist allein, sucht weiter unter dem Baum unbeirrt nach Krumen. Aber die Elstern, die Elstern hab ich vergessen, sie scheppern ein wenig dazwischen. Die sonnigen grünen Schattenflecken auf dem Rasen zeigen den kommenden Mittag und so schlägt auch die nahe Kirchenglocke zur elften Stunde. Ein schöner Ort.

Im Garten des Marienhospitals, Sonntag der 3. September 23, Fotografie RW

23-8-23

Die steinalte Sophia genoss ihre Unabhängigkeit, sie konnte tun und lassen was sie wollte. Viel Zeit hatte sie aber nicht. Heute am 23. August des Jahres 2023 nahm sie sich die Zettel, ausgeschnittenen Zeitungsartikel und Buchstapel, die sich rings um ihren Tisch angesammelt hatten, vor und zählte auf, was sie versäumt hatte zu lesen und was sie noch erforschen wollte:
1 «Das geheime Auge im Leichentuch» auf der Pieta von José de Ribera
2 Die Flugstrecken der bedrohten Zugvögel wie Kuckuck und Mauersegler
3 Den Text des Künstlers Marc von Criegern im neuesten Club Journal des Malkastens Düsseldorf
4 Die Taten des SS-Mannes Jürgen Stroop und das Warschauer Ghetto
5 Den Artikel zum 90. Geburtstag von Georg Bussmann
6 Die Folge 23 aus den Tagebüchern von Cornelia Schleime
7 Die Liste der Festspielorte im Sommer 23
8  Das Buch «Die künstlichen Paradiese» von Norman Miller
9 Weiter im Buch «Stein» von Jeffrey J. Cohen
10 Die Namensliste in der Todesanzeige von Peter Weibel
11 Über den Ausstieg aus der Kunst, das «Schweigen», von Marcel Duchamp vor 100 Jahren
12 Über und von dem Lyriker und Schriftsteller Lutz Seiler
13 Das Gedicht «Von Engeln» von Czesław Miłosz
14 Über den 90. Geburtstag von Rudolf Zwirner
15 Über den Galeristen Max Stern 1904-1987
16 Über J. M. Coetzee im Prado
17 Über den Krypto-Gauner, der den schwarzen Diamant « ENIGMA» kaufte
18 Endlich mal was von Wolfgang Herrndorf
19 Das Fotobuch der verstorbenen Freundin mit Porträts von 1980 bis 2021
20 Weiter im Buch von Jan Volker Röhnert «Gehen im Karst»
21 Weiter im Buch von Katja Petrowskaja «Das Foto schaute mich an»
22 Wiederlesen «Die Pariser Abende des Roland Barthes» von H J Ortheil
23 Weiter im Buch «Art Stories – Liber Amicorum in Honour of Gregor J M Weber»

Antiker Schiffchen-Ring mit geheimer Botschaft der Edelsteine Amethyst, Diamant, Opal, Rubin, Emerald (Smaragd), digital bearbeitetes Bildschirmfoto vom 23. 8. 23

Am Meer

Wir gehen am Spülsaum des Meeres. Es ist Ebbe, der Strand sehr weit. In den Prielen ist das zurückgebliebene Wasser warm. Die Wellen bringen in stetigem Rhythmus kühles Wasser und lassen es in runden Halbflächen zurückfließen. Mir wird schwindelig ob glitzender Spiegelungen und den sich überkreuzenden Rückläufen. Den Blick also nicht auf den Boden, sondern geradeaus nach vorn, oder besser nach oben in die schönen Wolken hinein. Sehr lange schon sind wir nicht mehr mit nackten Füßen durch die Wellen gelaufen. Die Hosen haben wir bis zum Knie hochgekrempelt, da die Wellen manchmal überraschend heftig kommen. Vielleicht gehen wir morgen sogar schwimmen. Das sommerliche Nordmeer haben wir meist gemieden, um dem Massenansturm zu entgehen. Nun sehen wir, dass die vielen Meeresbesucher sich in der großen Uferweite verlieren. Wir gehen anderthalb Stunden in Wind, Sonne und Wellen bis zum nächsten Badeort – dort kehren wir in ein und genießen das heerlijke appelgebak met kaneel en slagroom.

Zwischen Bergen aan Zee und Egmond aan Zee, Fotografie RW, 16. August 2023

Zeitraffer

An der Wand hängen die Familienfotos. Die Verstorbenen hängen links, die Lebenden rechts von der Uhr. Urgroßeltern, Geschwister, der Vater als Kind, die goldene Hochzeit, die verstorbene Mutter. Es ist Ostern. Die junge Frau am Tisch kommt spät zum Familienkaffee. Um Zehn nach Fünf will sie lieber schon zu Abend essen. Reste vom Mittagessen wurden für sie aufgewärmt. Zu ihrer Rechten sitzt im ursprünglichen Foto ihr Großvater, zu ihrer Linken ihr Ehemann. Das junge Paar hat den ersten Sohn, das Urenkelkind, gerade ein paar Monate alt, dem Urgroßvater, Großtanten und Onkel und zum ersten Mal gezeigt.
Aber das Punctum (im Sinne Roland Barthes‘) im Foto ist hier ein besonderes Geheimnis. Das weiß nur ich. Aber gleich will ich es verraten. Ich fotografierte noch mit der Kamera, nicht mit dem Smartphone. Die Fuji X10 war damals, 2017, mein ständiges Vademecum. Der tägliche Begleiter, der die gesehenen Notizen zuverlässig barg. Und nun hat mich das Vademcum in das Punctum gebannt, in die Familienszene, wie ich sie selber sah. Ich entdecke mich als Fotografin links bei den Verstorbenen im ovalen Rahmen, deutlich der Zeigefinger gekrümmt über dem Auslöser. Heute am Sonntag, den 13. August im Jahre 2023.

Besuch beim Vater,  invertierter Ausschnitt der ursprünglichen Fotografie aus dem Familienarchiv 2023, Fototografie RW, Ostern 2017

Am Tag nach dem Geburtstag

Die beiden Jungen sitzen mit gesenkten Köpfen am Ufer der Maas. Gegenüber ragen sehr hoch die zwei Westwerktürme und weniger hoch die beiden Chortürme der Liebfrauenbasilika in den Himmel. Der Baumstamm links sagt, hier – schaut die Vertikalen. Auch eine kleinere Wolke der Regenwand bildet zur freundlichen Begleitung ein Kirchturmdach. Die Jungen haben für mich etwas Andächtiges. Ich weiß, dass sie auf ihre Smartphones starren, aber in ihrer Haltung verbeugen sie sich. Das habe ich gesehen und hab es festgehalten. Das Gesehene spricht mehr von mir als von den Jungen. Ich habe das hohe Laubdach auch so angeschnitten, dass es sie von oben beschützt.

Ufer in Maastricht, Fotografie RW, 4. August 2023 

Eine Eins im Sein

Wenn ich die Mineralien, Kristalle und Steine betrachte, kann ich mich als keine oder doch eine Nummer Eins (1) einordnen in die Zeitenlänge der Jahrmillionen. Das habe ich mir so gedacht, aber ich kann den Gedanken noch nicht auf die Habenseite bringen. Im Zoisit hat der Rubin eine 1 (Eins) geformt. Im Fluorit formen sich Fieberkurven, im Bergkristall Doppelspitzen, die mir Magenschmerzen verursachen. Der violette Fluoritwürfelkristall wächst am spitzen Ende eines Dreiecks, auch das tut weh. Einst schenkte ich einer Freundin einen violetten und einen gelben Fluoritkristall in schönen Oktaederausprägungen. Ihr soll das Bild gewidmet sein.

Mineralien aus der Sammlung RW und aus dem Erbe SB, Fotografie RW 28. 7. 2023

Blick ins Universum

Was will ich noch – wohin werde ich gehen – will ich überhaupt zurückschauen – bin ich aus meiner eigenen Historie gemacht – wer kann mir das bestätigen? fragte sich die steinalte Sophia in der Nacht. Einerseits glaubte sie, verrückt geworden zu sein, andererseits blieb sie gelassen. Das sind nur die Nachtgespenster, die mich verwirren wollen. Und tatsächlich, sie sah deutlich und dunkelhell zerfahrene Gesichter, dann wieder wehende Tücher und sich drehende Pflanzen. Sie stand auf und blickte nach draußen auf den Rhein. Ein heftiger Wind fuhr durch die Platanen und in der Ferne blieb lange ein Wetterleuchten. Ich glaube, die Mauersegler sind schon wieder fortgeflogen, sie haben das Unwetter wohl abgepasst. Wieder im Bett liegend hörte sie das gleichmäßige Rauschen des Regens und schlief ein, ehe sie dem nächsten Nachtmahr hätte begegnen können.

Wilde Möhre im Ziergarten von Schloss Dyck, Fotografie RW, Juli 23

23-7-23

Ich bau mir dreiundzwanzig Köpfchen,
die einen ernst, die andern dumm.
Die schmeiß ich all‘ ins Geistertöpfchen
und hau dann auf die große Trumm.
Es sind erst zehn,
kann noch nicht gehn.

Zehn Köpfchen aus Ton, negativ gesehen, Fotografie RW zum 23. 7. 23

Lange Briefe aus Amerika

Ein Freund schrieb viele Briefe, auch einen langen Brief aus den USA und zwar genau an dem Tage, an welchem der erste Mensch den Mond betrat! 21-VII -1969. In diesem Jahr ist der Freund, kurz nach seinem Geburtstag, am Johannistag verstorben. Damals als ich die Briefe bekam, habe ich ihren Wert noch nicht erkannt. Immerhin habe ich sie alle aufgehoben und nun wieder gelesen. Aus Übersee schrieb er auf Luftpostbriefpapier, immer mehrseitig und eng beschrieben von seiner großen USA-Reise. Sein Bruder sagte mir auf der Beerdigung, das sei wahrscheinlich die schönste Zeit seines Lebens gewesen.
Der Lapislazuli ähnelt mit seinen silbergoldenen Pyriteinschlüssen im azurblauen Stein dem Kosmos und früher hießen die Streichhölzer Welthölzer. Das Stanniolpapier der Schokolade drehte ich beim Telefongespräch mit meiner Schwester zu Kügelchen, legte sie auf das Streichholzschächtelchen und dieses auf das Likörglas – die Farbe Blau hält alles festlich zusammen.

In Gedenken an den Briefschreiber, Lapislazuli, Stanniol, Streichholzschachtel und Likörglas, Kombination RW, Fotografie RW, im Juli 2023