Collector ingeniosus

Der collector ingeniosus ist ebenso ein amicus memoriae. Er will die Dinge bewahren, ordnen, präsentieren und betrachten. Er hält die Erinnerungen, die mit den Dingen untrennbar verhaftet sind, wach. Gleichzeitig ist er erfinderisch und baut Aufbewahrungsbehälter und Wandkonsolen für seine Dinge. So treten die gesammelten Artefakte und Naturdinge miteinander in Korrespondenz, befragen und befruchten sich gegenseitig. Der Mani-in-Fede-Ring von 1830, aus drei Goldlegierungen gefertigt und mit einem Geheimfach versehen, liegt auf einer rot schimmernden Opalnuss aus Äthiopien. Über das Lastentier aus zweifarbig glasierter Keramik, das die Nuss und den Ring trägt, ist eine sehr alte Uhrkette aus Tombak gelegt, die das Mani-in-Fede-Motiv mehrfach aufnimmt. Ein englisches Trauer-Medaillon komplettiert die Anordnung. Das Lastentier soll in Zukunft auf einem Podestchen an einer Präsentierungswand stehen, zusammen mit anderen Objekten, so wie es von musealen Sammlungen bekannt ist – in schönster symmetrischer Ordnung aufgebaut.

Kombination von altem Schmuck, Opalnuss und Keramik, Fotografie RW, Sammlung RW, 16. Februar 2024

Finderlohn

Zu Karneval fand ich auf den Straßen
– eine Goldmünze mit Adler und gekröntem Haupt, die hob ich auf
– ein Armband mit Goldperlen, zerissen, das ließ ich liegen
– einen schwarzen Handschuh, den ließ ich liegen
– ein Medaillon mit Diamanten und einem Mondsteincabochon, das hob ich auf
– eine Seidenblume, die ließ ich liegen

Blechmünze von der Straße, Fotografie RW, Karnevalssamstag 2024

Regen an Altweiber

So lebendig ist es in den Träumen. Ich bin alterslos, wechsle blitzschnell von Szene zu Szene. Ich wandere in Landschaften und finde Räume. Gehe meinen Leidenschaften nach. Sehe Farben und kostbare Dinge. Immer ist Wetter. Aber Gerüche nehme ich nie wahr. Geschwister oder Vater und Mutter sind in der Nähe und ich kann mit ihnen sprechen, soviel ich will.

Sorbet an Altweiber, invertierte Fotografie RW, 8. Februar 2024

Die junge Frau

Die steinalte Sophia war so glücklich, am Ufer des Rheins leben zu dürfen. Das wurde ihr heute morgen wieder bewusst, als sie von ihrer Küche aus durch die geöffneten Türen, in einer Flucht durch den Flur den vorbeifließenden Fluss sah. Sie setzte sich dann in der Bibliothek genau vor die Rheinfront, sortierte wie gestern weiter die alten Fotos aus ihrem Archiv und sah das Schiff INGE vorbeifahren. Sie dachte an ihre längst verstorbene Mutter, deren Freundin Inge im Rhein kurz nach dem Krieg ertrunken war.
Da hielt sie ein Foto einer ihrer Tanten in Händen. Anfang der 50er Jahre hatte die Schwester ihrer Mutter in einem Februar geheiratet, vielleicht ist jetzt Mai und eigentlich sollte die junge Frau sich doch freuen, ihre Mimik ist im Profil wohl nicht zu sehen. Sie wendet sie sich ab. Und ein Zweig berührt scheinbar ihren gesenkten Kopf. Dieser trägt Blätter, die anderen Zweige des Baumes nicht, jedenfalls soweit man es auf dem Foto sehen kann. Immerhin entdeckte die steinalte Sophia einen kleinen Blumenstrauß hinter der Windschutzscheibe. Zu ihrem Bedauern blieb die Tante kinderlos. Das Auto gehörte ihrem jungen Ehemann. Er hat das Foto wohl gemacht. Seine Kodak Retina, samt Objektiven, Filtern und Gebrauchsanweisungen liegen bis heute in Sophias Archiv. Das glänzende Auto mit dem Kennzeichen der britischen Besatzungsszone (?) ist wohl das eigentliche Motiv des Onkels. Hatten sie nicht beide, Onkel und Tante, bei dem von den Engländern verwalteten Düsseldorfer Flughafen gearbeitet?

Familienfoto der Tante L. um 1953, Archiv RW, 31. Januar 2024

Dürers Witz und ein profanes Detail


In der Holbein Ausstellung, die gerade im Städel in Frankfurt gezeigt wird, ist auch eine Kopie des  Altarbildes von Albrecht Dürer, genannt Das Rosenkranzfest, aus dem frühen 17. Jh. zu sehen. Das Original, das Dürer für die Kirche San Bartolomeo in Venedig malte, hängt in Prag. Dort sah ich es voller Erstaunen in den 80er Jahren und war erschrocken über seinen schlechten Zustand. Trotzdem erinnere ich mich, dass ich berührt war von der Andacht und Festlichkeit im Bild. Und erkannte die selbstbewusste Anwesenheit von Dürer, rechts im Bild an einem hohen Baume stehend, einen Zettel haltend, auf dem er sagt, dass er das Bild in nur fünf Monaten malte.
In Frankfurt sah ich auf der Wiener Kopie ein mir unbekanntes Detail, das es im Prager Bild nicht gibt. Eine große und detailgetreue Fliege auf dem Knie der Madonna. Aber – die Fliege sitzt eben nicht auf dem weißen Tuch auf Marias Schoß, sondern sie sitzt auf dem Bildgrund des Künstlers. Da die Fliege auch auf einer früheren Kopie, noch in Venedig gemalt, erscheint, ist es wohl sicher, dass Dürer sie in sein Bild malte, sie aber auf Grund von Beschädigungen und Restaurierungen des Gemäldes nicht mehr erhalten ist.
Die Fliege in Gemälden hat eine lange Tradition – musca depicta. Die Trompe-l’œil Fliege gehört zur Realität des malenden Künstlers und nicht zur Wirklichkeit des Abgebildeten. Sie sitzt auf weißen Hauben der Porträtierten, auf steinernen Brüstungen, auf gemalten Rahmen, auf Wänden – und immer ist sie zu groß als Beweis, dass sie nicht zu dem dargestellten Raum gehört. Etwas anderes ist die Fliege auf Obst- und Blumen-Stilleben, hier hat sie eine ikonografische Aufgabe, lehrt uns das Memento mori. Aber manchmal ist sie auch hier zu groß gemalt und ist wieder die Fliege aus dem Atelier des Künstlers, die die gemalten Früchte für wirklich hält.
Und als ich meine Fotografien vom Mueumsbesuch betrachte, leuchtet ein banales Detail auf fast jedem Foto auf – die sich im Schutzglas der Bilder reflektierenden Notausgangsschilder des Museums. Hier wie eine zweite Brosche am Ausschnitt der Madonna. Es ist die musca depicta des fotografisch-digitalen Zeitalters – sie schleicht sich in die Oberfläche der Fotografie ein, und bezeugt die Anwesenheit des Fotografierenden an jenem Tag im Museum.

«Holbein und die Renaissance im Norden» Städel Museum Frankfurt, noch bis zum 18. Februar 2024,
Detail auf der 1606 bis 1612 entstandenen Kopie des Bildes von Dürer im Kunsthistorischen Museum Wien. Das Rosenkranzfest, Albrecht Dürer, 1506, Öl auf Pappelholz, 162 × 194,5 cm, Nationalgalerie Prag, Fotografie RW, 23. 1. 24

Die Reise

Das Bild wurde eingefangen am Zugfenster auf der Hohenzollernbrücke in Köln. Und das am Symmetrietag 24-1-24. Dieser Zug fuhr wohl am Streiktag 1 der Lokführergewerkschaft. Nur anders. Die Fahrt nach Frankfurt ist demnach gut gelungen. Die Holbein-Ausstellung wurde besichtigt, die Freunde getroffen, ein Ring gekauft. Der Wind weht nun stark, aber die Brücken halten und die Sonne sendet Strahlen.

Blick aus dem Zug am 24. Januar 2024

Helle Flecken

Auf dem Bild von Cornelius Völker sehe ich eine mit breiten Pinselstrichen gemalte Pinnwand, darauf eine Rechnung, Notizzettel, helle, gelbe und blaue Papiere, aber auch die Reproduktion eines Manets, die ich sofort als sein Porträt von Emile Zola erkenne. Dieses Gemälde von Manet gehört zu meinen absoluten Favoriten. Zola sitzt auch vor einer Pinnwand, da hängen ein japanischer Farbholzschnitt, eine Schwarzweiß-Reproduktion der Olympia von Manet und ein Druck der Los borrachos o el triunfo de Baco von Velázquez. Dieser sicherlich ein ganz Großer für beide, den Maler und den Schriftsteller. Und Zola schrieb über die Malerei von Manet.
Das Gemälde von Völker ist ein Lehrstückchen über Malerei, nicht nur dass er die Primärfarben ironisch in den Klebestreifen für seine Pinnwand-Zettel festhält, sondern auch dass genau das Thema der hellen Flecken ihn umtreibt. Betrachtet man die Olympia von Manet, dann ist ihr heller Körper auf weißen Bettüchern in malerischer Sicht ein heller Fleck. Auf dem Gemälde von Velázquez ist der Körper des jungen Bacchus ein ebenso schockierend heller Fleck inmitten der dunkleren Umgebungstöne, inklusive des Inkarnats der übrigen Trinker. Bemerkenswert, bei Völker ist das große Blatt der helle Fleck, dessen rechte untere Ecke genau auf Zolas Kopf trifft.

Gemälde von Cornelius Völker, gesehen im Kunstpalast Düsseldorf, Anfang Januar 2024

Frost


Die Eiskristalle sind über Nacht gewachsen, man sieht sie nun mit bloßem Auge. Sie verfolgen Grate, bilden kleine Sträuße in sechsstrahligen Richtungen, setzen sich zu Dendritenclustern zusammen. Sie färben sich blau im Gegenlichtschatten und golden mit der Sonne. Wir glauben, dass sie weiß sind, in Wirklichkeit aber sind sie transluzent.

Eiskristalle bei minus 6 Grad, Fotografie RW 20. 1. 2024

Schnee am Rhein

Am Rhein fällt Schnee. Das hat mich ziemlich aus dem Konzept gebracht. Bin zu nichts gekommen. Hab immer wieder hinsehen müssen. Bin in der Dämmerung noch hinaus gegangen, wie viele andere auch. Freude über die üppige Pracht, die schöne Stille, das deckende Weiß. Kinder mit Schlitten, die im Dunkeln noch die Abhänge hinuntersausen. Paare, die Arm in Arm auf dem Rheindeich spazieren gehen. Beleuchtete Hunde, teils von ihren Besitzern getragen, da Schneefall unbekannt, laufen durcheinander – und es hört nicht auf zu schneien und es ist weiter still, der Schnee schließt alles zuammen. Da hört man das Schaben der Hausbesitzer, die ihre Einfahrten freischaufeln. Die beleuchteten Fenster der Rheinbewohner sind heute besonders warm. In einem sehe ich sogar noch einen Weihnachtsbaum.

Schnee am Rhein, Fotografie RW 17. Januar 2023

Bella Bulla

Am 12. Tag im neuen Jahr legte ich die Funde von gestern auf die Fensterbank aus Muschelkalk. Ich fotografierte sie mit meinem Smartphone und zwar größer als in Wirklichkeit. Das kleine himmelblaue Glasstück ist winziger als eine Erbse. Und dass es etwas Besonderes ist, verrät es mir durch seine Inklusion. Eine wunderbar runde Luftblase hat sich in diesem Bruchstückchen erhalten. So als wollte das Stück sie präsentieren, sitzt die Blase auch genau mittig darin. Wieso in aller Welt habe ich gerade dieses Stückchen gefunden? Unter der Rheinbrücke in der großen Schotterfläche ist es doch eigentlich unauffindbar. Ich fokussiere meine Augen auf Blau – die Farbe unterscheidet sich vom Grau und Braun der Schlacke im Schotter. Außerdem schien gestern strahlend die Sonne am Rheinufer. Und so konnte ich unter der Brücke die blitzenden Glasreste um so besser entdecken. Ich war an den Rhein gegangen, um die gefrorenen Eisflächen des Hochwassers zu sehen. Die Eiskristalle auf dem nassen Schwemmholz funkelten, riesige Stämme trugen glitzernde Mäntel. Im Gegenlicht sah ich das Profil eines unbeweglichen Reihers zwischen den auffliegenden Gänsen. Die Türme und Bauten der Stadt in Richtung Osten waren durch das Licht der Morgensonne noch gelbgrau verblasst. Der Himmel gegenüber jedoch strahlte in winterlichem Blau, das so genau die Farbe meines gefundenen Glasstückchens hatte.

Fundstücke vom Rheinufer Düsseldorf im Schotter unter der Kniebrücke, Fotografie RW, 12. Januar 2014