Prosit Neujahr

Obwohl es so aussieht, kann der Blick in die Zukunft nicht gelingen. Hier handelt es sich um die Täuschung durch ein geschlossenes, selbstreferentielles System. Verschwinden in einer Spalte der Vervielfältigung. Wieso hat die Unendlichkeit eine leichte Krümmung? Das Display des Mediums zeigt zudem die Motive anders als die Spiegel.

Im Bad eines Dortmunder Hotels, Dezember 2017

Nepomuks Zunge

Heute Vormittag kam ich zu Fuß aus der Innenstadt zurück und nahm wieder den Weg über die Oberkasseler Brücke. Die Stimmung am Rhein war trotz trübem Himmel frisch und entspannt. Die vielen Möwen hatten sich auf den Buhnen und in den Kiesbänken niedergelassen, dazwischen stand seelenruhig ein Reiher. Auf den Wiesen des anderen Ufers weideten konzentriert mindestens fünzig Gänse. Als ich am Brückenkopf die Statue des heiligen Nepomuk passierte, sah ich, dass man einen Kranz an ihm befestigt hatte. Und unten am Fuße des Heiligen lag eine ausrangierte Computertastatur. Zunächst ärgerte ich mich über das asoziale Handeln. Aber passte das nicht wunderbar? Hier lag ein Zeichen für Kommunikation und Sprache! War da nicht die Legende vom Beichtgeheimnis? Nepomuk hatte doch Standhaftigkeit und Verschwiegenheit bewiesen und war dafür allerdings gefoltert, von der Brücke gestoßen und im Fluss ertränkt worden. Weiter berichtet die Legende, dass an seinem später geborgenen Skelett die Zunge seltsamerweise nicht verwest war. So wird der Brückenheilige als Schutzpatron gegen Verleumdung oft mit dem Zeigefinger vor den Lippen dargestellt.

Seltsam geformter Sinterüberzug in rosa schimmernden Lagen, Calcit vielleicht mit Cobaltanteil, auf sehr hartem, aber fasrigem Holzrest. Gefunden in einer historischen Grube, Schmiedestollen, Wittichen, Schwarzwald, aus der Sammlung von RW

First Flight

Diese Aufnahme machte ich bei meinem allerersten Flug. Im Sommer 1970 ging es nach London. Gerade hatte ich mein Abitur bestanden. Ich flog zusammen mit meiner Schwester, die noch Schülerin war. Beim Hinausschauen aus dem Fenster des Flugzeuges konnte ich die Nieten in den Tragflächen der Maschine vibrieren sehen. Ich erinnere mich auch an die großen Propeller. War es eine Vickers Viscount? Angst hatte ich damals keine.

Drei Kreuze

Heute morgen alles anders.
Himmel und Rhein in Grau.
Wasser über die Ufer getreten.
Gänseschwarm in großer Aufregung.
TEMPTATION mit hohem Bug vorbeigezogen.
Schafe blökend umhergerannt.
ETERNITY flussabwärts geeilt.
Hütehund nicht aufgepasst.
SERVUS müht sich aufwärts.
Pläne durchkreuzt.
Drei Zäune gesetzt fürs Neue Jahr.

Rotfinder

Frosthagebuttenrot, Spinellrot, Rubinrot,
Invertiertes Eichelgrün, Weihnachtskügelchenrot

Spinellzwilling aus Luc-Yen, Vietnam , Rubin in Matrix aus Katlang, Pakistan
aus der Sammlung von RW

St. Étienne

Heute ist Namenstag des heiligen Stephanus. Jean Fouquet malte den Heiligen Mitte des 15. Jahrhunderts auf der linken Tafel eines Dyptichons, zusammen mit dem Stifter Étienne Chevalier, dem Namensvetter des Heiligen. Die beiden blicken nach rechts zur thronenden Madonna, die auf der überaus besonderen rechten Tafel ungewöhnlich abstrahiert dargestellt ist. Mit dem Jesusknaben auf dem Schoß hat die sehr blasse Mutter Gottes eine Brust zum Stillen entblößt, ist umgeben von blauen und roten Engeln. Das Kind weist mit dem Zeigefinger in Richtung Stephanus und Stifter. Das Gemälde der beiden Stephans hatte mich bei einem früheren Berlinbesuch wegen einiger besonderer Details sehr beeindruckt, ich fotografierte den Ausschnitt schon 2010 in der Gemäldegalerie. Der Heilige trägt das Zeichen seines Martyriums, den Stein auf einem Buch, das ihn als gelehrten Mann auszeichnet. Aus dem goldenen Schnitt des Buches ragt die winzige Spitze eines Lesezeichens heraus.
Der Stein ist als kantiges Bruchstück ausgeformt, nicht etwa als gerundetes Geröll. Seine Anmutung ist die eines Flints oder Feuersteins, glänzend, wie nass und messerscharf. Fast wie ein asiatischer Gelehrtenstein, eine große Felsformation sinnbildlich im Kleinen. Oder auch, wie von Menschenhand behauen, eine Skulptur, ein Werkzeug.
Der Kopf des Heiligen blutet fast unbemerkt, das Blut läuft in einem Rinnsal in den Kragen seines kostbaren Gewandes. Stephanus ist mit asketischen Zügen ausgestattet, die Tonsur unterstützt die Hagerkeit seines Kopfes. Seine Kopfwendung geht zwar in Richtung Madonna, aber sein Blick ist eher innerlich. Zart nimmt er den Stifter bei der Schulter, um ihn bei der Mutter Gottes vorzustellen.
Im Hintergrund malt Fouquet kostbare Steinplatten als Ausstattung einer schön gegliederten Wand. Hier imitiert er verschiedene polierfähige, metamorphe Kalkgesteine, unter anderem vielfarbigen Marmor. Gerade die Steinplatte hinter dem Heiligen (perspektivisch gesehen) ist voll farbiger Dramatik. Auf dem Gegenstück des Dyptichons ist der Thron der Madonna nicht nur mit kostbaren Edelsteinen und Perlen ausgestattet, sondern auch mit vielfarbigen Marmortäfelchen und polierten Kugeln aus dem gleichen Marmor versehen, die auch Fensterkreuze widerspiegeln!
Für meine Schwester, die heute auch Namenstag hat.

Jean Fouquet, Diptychon von Melun, um 1455,
linker Flügel mit dem Bildnis des Stifters Étienne Chevalier und dem hl. Stephanus, Staatliche Museen zu Berlin,
Gemäldegalerie,
rechter Flügel: Madonna umgeben von Engeln, Eichenholz, 95 x 85,5 cm © Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, (Datei:Jean Fouquet 005.jpg) – vereint im letzten Winter in Berlin

Frohe Weihnacht

Das Staunen über die Einfälle der Natur ist beinahe so groß wie das Sich-Wundern über die Ereignisse der Weihnacht.
Detail einer Amethyststufe mit auf- und eingewachsenem Epidot, Malawi, Südostafrika, aus der Sammlung von RW

Stadt am Fluss

In der Stadt am Rhein zu leben, ist für mich eine der größten Freuden. Der Zwei-Brücken-Gang über die Rheinkniebrücke in Richtung Altstadtufer und weiter an der Kunstakademie vorbei über die nur einen Kilometer flussaufwärts liegende Oberkasseler Brücke sollte zu meinen Ritualen gehören. Am späten Nachmittag des vierten Advents das Schlossturm- und Riesenradmotiv wieder zu sehen (siehe auch den Beitrag vom ersten und zweiten Advent) gerät zum festlichen Ereignis für den Flaneur – mit dem Handy gelang im Vorübergehen ein schönes unscharfes Foto, und das an einem Dreiundzwanzigsten.

Noch zweimal schlafen

Das waren Zeiten,
als noch wirkliche Kerzen am Baum brannten,
als der selbst gemachte Weihnachtsschmuck sparsam aufgehängt wurde,
als die Familien noch groß waren,
als die Kinder unter dem Tannenbaum musizierten,
als man eine Eisenbahn bekam,
als die große Schwester auf die kleine aufpasste,
als die Kinder auf Vater und Mutter hörten,
als sie aber trotzdem vom Blitzlicht irritiert waren,
als sie trotzdem die Stirn runzelten,
als sie trotzdem in eine andere Richtung schauen wollten,
als sie doch nach vorne ausbrechen wollten.

Weihnachten 1960 in Haus Dorgarten, Archiv RW

Glück

So dankbar bin ich seit vorgestern, Du weißt schon warum, mein lieber Freund! Welch ein Glück, dass ich auch noch diese kleinen Blüten sah. Der Strauch am Friedhofsrand hatte sich schon frühlingshaft verkleidet und das vier Tage vor Weihnachten.

Gelb blühender Strauch an einem Friedhof in Duisburg, invertierte Handy-Fotografie von LB, 19. Dezember 2018