TausendundeinFoto


Von einem Wiederholungstraum kann die steinalte Sophia berichten. Immer wieder hat sie darin eine Kamera in der Hand, mit der sie alles festhält, was sich um sie herum ereignet. Sie überlegt dann aber mehrfach – wieviele Fotos hab ich denn schon gemacht? Ist der Film nicht längst voll, hab ich durch immer neues Auslösen jetzt doppelt und dreifach belichtet, so dass frühere Aufnahmen nicht mehr erkennbar sind? Diese Überlegungen setzen ihr derart zu, dass sie mit einem unguten Gefühl aufwacht. Als ob mit dem Verlust früherer Fotografien ihre Vergangenheit ausgelöscht sei, ihre Erinnerungen beschnitten.
Ich will nicht mehr soviel fotografieren, sagte sich die steinalte Sophia heute Morgen. Auf ihrem Rheinspaziergang beobachtete sie Dutzende von Hummeln, die in den Lavendelbüschen der Vorgärten hin und her taumelten. Die hohe Luftfeuchtigkeit und die Kühle des Morgens schienen ihre Flugrouten zu behindern. Wie betrunken purzelten sie in den violetten Rispen herum, die den intensiven Duft des Südens verströmten.
Die Kamera des Smartphones kann ein Bild herstellen, das das menschliche Auge so nicht gesehen hat. Welche Zaubereien der Computer der Kamera im unscharfen Hintergrund des Bildes dazuerfindet, welche Vergrößerung er bei den fokussierten Motiven erreicht, ist erstaunlich. Das hab‘ ich alles so nicht gesehen, sagte die steinalte Sophia, auf das Display des Smartphones schauend, aber ich kann korrigieren, indem ich das Erlebte aufzuschreiben versuche.

Heute Morgen am Rhein, Fotografie RW 29. Juni 2022