Kuss und Berührung

Heute am Tag des Kusses – wer legt eigentlich solche Zuschreibungen fest ? – fiel der steinalten Sophia ein, dass man ja nicht nur die Liebsten küssen konnte, sondern auch Gegenstände. Als heilig verehrte Objekte werden geküsst, so innig, dass sie sich im Laufe der Jahrhunderte in der Oberfläche verändern, gleichsam eine Kusspatina ausbilden. Der indische Prinz hatte ihr von einer kostbaren Kusstafel erzählt, die er im Kunsthandel erworben hatte – eine kunstvoll geschmückte Kreuzesdarstellung in Silber, der Kruzifixus aus Elfenbein, rund um versehen mit Edelsteinen, der rückseitige Holzgriff dagegen ganz schlicht. Besonders am Kopf des Gekreuzigten war das Elfenbein ganz flach und glänzend geworden. Solche Täfelchen wurden den Gläubigen in der heiligen Messe vom Priester vor der Kommunion zum Friedenskuss gereicht. Alles längst vergessene Rituale, dachte die steinalte Sophia, obwohl sie voller Andacht nicht geküsst, aber die Hand aufgelegt hatte im Ano Santo 1982. Der warme Stein der Mittelsäule der Puerta Santa in Santiago de Compostela bleibt ihr bis heute im Gedächtnis der Berührungen.

Der Kuss am Meer, Bergen aan Zee, digital manipulierte Fotografie RW 2022