Natur als Künstlerin

Heute Nacht war die steinalte Sophia aufgestanden, ans Fenster zum Rhein hin getreten und hatte gesehen, dass es schneite. Die Rheinwiesen waren schon weiß, der Strom tiefschwarz und im Licht der Straßenlaterne funkelten die Flocken wie ein diamantener Kegel. Als sie wieder im Bett lag und froh war über die frische Winterluft, die durchs geöffnete Fenster wehte, kam ihr in den Sinn: Die Natur kann kein Gedicht schreiben, keine Musik komponieren, nichts abbilden. Wenn wir im Achat ein Gesicht entdecken, dem Gesang der Vögel oder des Windes lauschen, oder in der Quarzader eines Kiesels einen Buchstaben lesen, ist das alles nur ausgedeutet, also vom Betrachter gemacht, nicht von der Natur. Sie kann nur sie selbst sein. Zufrieden über diese Einsichten schlief sie wieder ein und träumte von auf ihrer Reise nach Paris, wo sie bei Claude Boullé den schönen Landschaftsmarmor eingekauft hatte.

Pietra Paesina, Toscana, Sammlung RW, erworben bei Claude Boullé, Paris, Fotografie RW 2021