Was man in der Morgendämmerung nicht fotografieren kann

Heute um 8.08 Uhr stand die steinalte Sophia am Rheinfenster, sah den abnehmenden Mond, dessen Licht sich so silbrig im Wasser des Flusses spiegelte. Dämmerungsblau und Silber – das muss ich betonen, dachte sie sich, denn das Licht der Laternen und Lampen wirft ein Gelb ins Wasser. Und wie das Mondlicht in der Bewegung der Wellen so diamanten glitzert! Sie trat auf den Balkon, um noch besser sehen zu können, atmete die kalte Morgenluft ein, vernahm das Rauschen eines Schiffes und das Surren und Scheppern der Kräne im Hafen gegenüber. Aus dem Garten hörte sie eine Amsel, die ein vorsichtiges Lied sang, so fremd, dass ihr das Märchen von der Chinesischen Nachtigall einfiel. So zauberhaft die künstliche Nachtigall, besetzt mit Diamanten, Rubinen und Saphiren, auch sang, nur die graue, wirkliche Nachtigall, die die Welt außerhalb des Palastes kannte, vermochte mit ihrem betörenden Gesang dem Kaiser das Leben zurückzugeben, obwohl der Tod schon schwer auf seiner Brust saß.
22.02.2022 – wie ein rhythmisches Lied klangen die Zahlen in Sophias Ohr. Gleich 6 Zweien heute, das gibt 12, rechnete sie, und um 8.08 sah ich den Mond, gibt 16, summa summarum 28, Quersumme 10, Quersumme 1. So bin ich wieder am Anfang – beim einen, einzigartigen Mond, dessen Licht sich im Wasser spiegelt. Nun verschwunden für immer und ewig, unmöglich festzuhalten, und schon gar nicht im fotografischen Bild.

Morgen mit abnehmendem Mond am 22. Februar 22, Fotografie RW