Hochsommer Ende Mai

Die Stimmen von Amsel, Stieglitz, Singdrossel, Ringeltaube,
auch Halsbandsittichen in den hinteren Gärten.
Mauersegler, Meise und ein jubilierender Fink vor dem Haus.
Den Falken von der Lausward, der hier immer rüttelt,
hab ich schon Wochen nicht mehr gesehen.
Möwe, Kormoran, Schwan, Gans und Ente
bevölkern die Ufer des Rheins.
Die klugen Krähen sitzen sogar
auf den Rücken der Schafe.
Platanen treiben aus, die Blätter wachsen groß und größer,
verdecken den Rhein, so dass das Lesen der Schiffsnamen
pausieren muss bis zum Herbst.
Es ist schwül und heiß. Das Licht schon morgens diesig.
Allerdings sind die Partyschiffer, Jogger, Radfahrer, Picknicker,
Spaziergänger, Banksitzer, Jetskifahrer und Skater
sehr gut gelaunt und zeigen alles, was sie haben.
Das Gras wird gemäht, die Straße gekehrt, der Müll abgeholt,
die Container geleert, das Auto geparkt, die Pflanzen gegossen.
Der waghalsige Tiefflug der Mauersegler zeigt den Luftdruck an.
Daher fliegen die Insekten panisch gegen die frisch geputzten Fenster.
Im Wintergarten explodieren die Philodendren,
aber das Violett der Rhododendren im Garten verblasst.
Jetzt höre ich den Zilpzalp mit seinem einfachen, schönen Ruf,
den hatte ich vergessen.

Korrespondenzen XVI

Welt in Umkehrung.
Aus Hell wird Dunkel,
aus Dunkel wird Hell.
Heute im Autoradio auf dem Weg
zum Gespräch mit dem Gärtner
hörte ich das Agnus Dei
Op. 11 von Samuel Barber.
Ich bin gewiss, dass dies kein Zufall ist.
Und keine falsche Emotion:
Heute vor zwei Monaten
war die Kindheit zu Ende.

gelbe Heckenrose am Wegrand nahe des Rheins,
Morion, fast schwarzer Rauchquarz, Uri, Schweiz, aus meiner Sammlung

Kein Bleiben

Kein Bleiben.
Zeit geht weiter.
Zu viel gesehen.
Zu viel gehört.
Alles fliegt vorbei,
wird sich ähnlich.
Werte verfallen.
Nur in äußerlicher Anwendung
Veränderung.
Das große Erleben
schwach.
Das Wunder des Todes
vorbei.

Detail aus «Cimon und Efigenia», von Peter Paul Rubens und Frans Snyders, um 1617, gesehen am 17. Mai im Frankfurter Städel Museum.

Korrespondenzen XV

 

 

 

 

 

 

Ausgewogenheit der Frau Luna im Kontrapost, Bronze, vermutlich Detail eines Tischaufsatzes von Johann Gregor van der Schardt, um 1570,
Unausgewogenheit des Tieres im Futterneid, Frans Snyders‘ Stilleben und Affe, Detail in «Cimon und Efigenia», von Peter Paul Rubens, um 1617,
beides gesehen am 17. Mai im Frankfurter Städel Museum.

Litanei am Rheinfenster

Wer hat die Silberlöffel geklaut
Wer tröstet das schreiende Kind
Wer ruft die Hunde zurück
Wer benutzt einen Serviettenring
Wer hört den Wind in den Pappeln
Wer beruhigt den fluchenden Mann
Wer liest die Schiffsnamen
Wer hält die Welt in Ordnung
Wer zählt die Radfahrer
Wer findet ein Maasei
Wer war in München, Hannover und Paris
Wer bestimmt das Ende

 

Holunder und die Zahlen

So schön am Wegesrand
der Holunder,
erst grünweiße Kügelchen,
dann weißgelbe Sternchen,
dann wieder Kügelchen,
schwarzblau im Herbst,
Sambucus nigra.

Die Sternchen haben fünf Zacken,
fünf goldene Staubblätter.
In der Mitte ein dreiteiliger Fruchtstand.
Daraus werden
später drei Kernchen.

Zwei und drei ist fünf.
Wo ist die Zwei?
Zu Frau Holle kommen zwei Mädchen,
Goldmarie und Pechmarie.
Blühen in Goldweiß und Fruchttragen in Schwarz.

Frau Holle schüttelt die Kissen,
es wirbelt der Schnee.
Wie mit Blütensternen beschneit,
zeigt sich der Hollerbusch.
Allerdings haben Schneekristalle
sechs Ecken.