Notizen zu Hanns-Josef Ortheils Besuch am Niederrhein

Gestern Nachmittag fuhr ich in der sommerlichen Hitze (Es ist erst Ende Mai!) zu einer meiner jüngeren Schwestern an den Niederrhein. Auf der Autofahrt hörte ich die Stimme von Alfred Deller, er sang «music for a while» von Henry Purcell. Diese schöne Stimme des Countertenors, die schmerzvollen, aber erlösenden Worte, der Gesang, der Nöte zerstreuen will, was bedeutet das für mein Vorhaben am Niederrhein? Ich möchte zu einer Lesung von Hanns-Josef Ortheil.
Ich assoziiere:
Melancholie (trifft zu)
Musik als Lebenselixier (trifft zu)
Alte Musik (trifft zu)
So fremd ist diese musikalische Einstimmung auf den Leseabend nicht.
Es gibt schon seit Wochen für diese Veranstaltung keine Karten mehr, restlos ausverkauft. Ich versuche trotzdem, an der Abendkasse für mich und meine Schwester eine Karte zu bekommen. Ich muss noch eine halbe Stunde warten, ehe die Kasse überhaupt öffnet. Man macht mir keine Hoffnung. Bis jetzt hat noch niemand seine Karte zurückgegeben. Dann um 18.45 Uhr heißt es, man habe acht Kinderstühle aufgestellt, ob das so ginge. Ja, ich akzeptiere. Da man keine Eintrittskarten mehr in Papierform hat, schreibt die Dame an der Kasse mir mit blauem Kugelschreiber auf den Unterarm:
2 x K-Stuhl.
(Ein Foto davon ist vorhanden, sieht aber aus wie aus der Fleischbeschau beim Metzger, deswegen hier nicht veröffentlicht.)
Hanns-Josef Ortheil signiert dann ab 19.00 Uhr mit Engelsgeduld etlichen Lesern und Leserinnen unzählige Bücher. Er sei zu Fuß vom Bahnhof in den Veranstaltungsraum gekommen, wird später gesagt und, dass er nach der Lesung auch sofort wieder weg müsse.
Dann beginnt die Lesung in der sehr gut gefüllten Halle. Viele fächeln sich mit Prospekten Luft zu. Hanns-Josef Ortheil macht noch schnell ein Foto von der Bühne. Ich bewundere ihn wegen seiner Ausdauer, nach einstündigem Signieren mit großer Gelassenheit auf die Bühne zu gehen und dann mit kraftvoller Stimme leicht und luftig (die Schwüle scheint ihm gar nichts aus zu machen) mit seinem Vortrag und seiner Lesung zu beginnen. Zwei seiner Bücher, die er heute Abend vorstellt, habe ich schon gelesen, zwei weitere sind mit diesen verbandelt und wie Ausschnitte oder Fortführungen der beiden anderen. Das ist heute Abend plötzlich klar: sie sind alle wie Verwandte aus ein und der selben Geschichte, jedoch immer aus jeweils anderen Perspektiven. Die Worte seiner vorgetragenen Passagen und auch die in lockerer Erzählform gesprochenen scheinen vertraut und so nahe, wie wenn man mit Freunden oder der Familie spricht. Er flicht Geschehnisse ein, wie selbst erlebt (sind sie ja auch), nichts wirkt künstlich. Dass durch sein persönliches Erleben, sein eigenes Leben ihm die Stoffe nie ausgehen werden, wurde mir durch das unmittelbare Gegenüber seiner Person ganz deutlich. Es war zu spüren: Freundlichkeit, Humor, eine genaue Beobachtungsgabe und eine aus den einfachen Alltagsgeschichten sich unmittelbar einstellende Tiefe.
Nach der Veranstaltung hab ich ihn ganz kurz begrüßt und ihm eine gute Reise gewünscht.
«Der Typ ist da» werde ich vielleicht nicht lesen. Mich hat im Titel das Wort Typ gestört. Das ist mir zu salopp. Auch bin ich sehr empfindlich, was die Illustration auf dem Titel des gebundenen Buches angeht. Die Illustration auf dem Taschenbuch gefällt mir viel besser. Ich mag nur ganz bestimmte Zeichnungen, besonders die von den großen Zeichnern der Kunstgeschichte, oder auch die von zeitgenössischen Künstlern, aber nicht die von geschulten Illustratoren/Grafikern (mit Ausnahmen). Dass es in der Geschichte des Matteo wohl ums Zeichnen als Aneignung von Welt geht, ist äußerst spannend. Das Zeichnen ist das Medium, das die unmittelbarste Übersetzung des Sehens bedeuten kann. Die Bewegungen, der Strich, Anhäufungen von Graphit und Farbstäubchen sind und bleiben ja die wirklichen, wahren Spuren des Zeichners.
Barlach und Kollwitz, die im Roman wohl vorkommen, sind mir leider durch schlechte Nachahmer aus der «modernen» Kirchen- und Moralkunst der 50/60er Jahre verleidet. Dafür können sie zwar nichts. Dennoch hat mich die von Ortheil vorgelesene Passage, als Matteo den Schwebenden von Barlach in der Antoniterkirche in Köln entdeckt, schon ziemlich fasziniert.

Die vier Bücher des Abends in Geldern waren:
«Paris, links der Seine», «Was ich liebe – und was nicht», «Der Typ ist da», «Cicchettario: Die legendären Rezepte des Al Bottegon in Venedig» von Alessandra de Respinis und Ortheil. Die beiden erst genannten habe ich gelesen und ich finde sie wunderbar.