Die graue Jacke


Heute finde ich ein Foto von einem Sommer in der Schweiz. Meine Schwester fotografierte mich auf einem Balkon über dem Vierwaldstättersee bei Gersau. Ich betrachte mit der Zehnfach-Lupe Mineralien, die ich auf der Baustelle des Gotthard-Basistunnels – frisch aus dem Tunnel, vor dem haushohen Bohrkopf gerettet vom Strahler Peter Amacher selbst – gekauft hatte. Auch liegen noch Mineralien dabei aus der Gegend um Sedrun in Graubünden, wo es einen Zugang zur Baustelle des Tunnels gab. Bergkristalle, Quarzstufen mit Pyrit und Chlorit, Rauchquarz, eine Hämatitrose mit orientiert aufgewachsenem Rutil und Morion, der fast schwarze Quarz.
Bei Altdorf in Uri konnte man die Bausstelle der NEAT in diesem Sommer besichtigen. Meine Schwester und ich fuhren mit Bussen tief in den Bauch des Berges, gingen dann weiter zu Fuß bis zum Bohrkopf. Ich hob einen unspektakulären grauen Stein aus dem Berginnern am Rande des Weges auf, der hätte sonst nie das Licht der Welt gesehen – man sieht ihn vorne auf dem Tischchen liegen.
Die graue Jacke, die ich auf dem Foto trage, ist warm, vielleicht war es ein kühler Augustabend. Und, was soll ich sagen, dieselbe Jacke trage ich jetzt, auf dem Laptop schreibend mit Blick auf den Rhein, am heutigen Sonntag, den 8. Oktober 2023 … zwanzig Jahre nach der Aufnahme hat dieser banale Zufall mich schockiert. Ein punctum (im Sinne Roland Barthes‘)?
Hanns-Joseph Ortheil schreibt in seinem Buch KUNSTMOMENTE, das er mir freundlicherweise zuschickte, auf Seite 34: »Das »Studium« bleibt aber, Roland Barthes zufolge, beim Betrachten von Fotografien nicht allein. Oft gesellt sich vielmehr ein zweites Moment der Beobachtung oder des Blickes hinzu, das er »punctum« nennt: »»Das zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).««
Auch dafür habe ich Beispiele* gegeben: Der Sonnenhut meines Onkels, das Lächeln des Vaters, die Milchkanne und die bereitgehaltenen Tassen der Geschwisterrunde – sie nahm ich als einzelne Momente eines punctum wahr: bestechende, entwaffnende, sprachlos machende, wie ein Blitz erscheinende, höhere Zufälligkeit. Solche Momente entwerfen keine »Bedeutung«, sie sind keine Repräsentanzen eines möglicherweise »ländlichen Lebens« wie auf einem Gemälde.
Nein, sie erscheinen plötzlich, durchsetzen das nervöser und fiebriger werdende »Studium« und verankern im Betrachter die Gewissheit, von einem sehr direkten Impuls des »Lebens an sich« getroffen oder berührt worden zu sein.«
Ist die graue Jacke ein echtes punctum? Einem anderen Betrachter des Bildes wird sie nichts geben. Nur ich als wissende, vom Zufall der Ereignisse getroffene Archivsucherin kann hierin ein punctum sehen. Die Überlegungen Ortheils bestätigen mich darin – für mich ist sie eine Spur des Lebens.

*Ortheil bezieht sich hier auf Familienfotografien, RW
Zitat aus Hanns-Joseph Ortheil »KUNSTMOMENTE, Wie ich sehen lernte«, btb, 2023
Sommer in Gersau am Vierwaldstättersee, Schweiz, Fotografie Stefanie Weber, August 2003