Die Jahresliste

Am Abend saßen drei Menschen am Rhein und betrachteten den Fluß. Jeder auf seiner eigenen Bank. Der Rhein hatte, wie in den letzten Jahren häufiger, Niedrigwasser. Die Böschung des gegenüberliegenden Ufers wirkte ungewöhnlich hoch. Gleich würde die Sonne ein wenig weiter westlich, etwa auf Höhe des Wasserturms untergehen. Unzählige feine Spinnfäden waren ins flache Gras gewebt worden, nur einer schwebte noch rechts wie ein isolierter Sonnenstrahl oder eine gerade gezogene Drachenschnur steil nach oben – das ist der Altweibersommer.
Die steinalte Sophia hatte eine Liste erstellt. Diese zeigte vierzehn Eintragungen. Die Jahreszahl 1992 stand oben, dann setzte sie mit 2018 eine zweite und eine dritte für 2021. Für 2022 setzte sie zwei und für 2023 neun, das letzte Datum war der 28. September. Das war die Liste der Toten, ihrer Bekannten und Freunde aus der Kunst. Nun es ist nichts Neues, dass die Menschen sterben. Es sterben sekündlich Tausende und es werden sekündlich Tausende geboren, schon allein in meinem Radius, sagte sie sich wie zur Beruhigung. Die Liste für 2023 war ihr jedoch schon zu lang. Wie kurz ist sie aber angesichts der Toten der aktuellen Kriege, von denen ich in den täglichen Nachrichten höre.

Abend am Rhein, Fotografie RW, 25. September 2023

.