Der Turmalin

Ich entdeckte nach langem Suchen unter einer Falte seines Seidenschals, den der indische Prinz auf ein kostbares, besticktes Kissen gelegt hatte, einen Ring mit einem großen rötlichen Mittelstein. Zehn Diamanten im Brillantschliff umgaben ihn wie die Blättchen einer Blüte. Zusammen müssten sie etwa 1,50 Carat wiegen. Der Prinz sah meine Blicke und sagte: «Wenn Du errätst, um welchen Edelstein es sich bei dem Mittelstein handelt, schenk ich Dir den Ring.» Ich wusste längst, dass dies ein Turmalin sein musste, und zwar einer mit einem Dichroismus. Das heißt, beim Hin- und Herbewegen wechselt der Stein die Farbe. Betrachtet man ihn von oben, aber nur von einem Ende des Ovals, so erscheint ein heller Gürtel. Vom anderen Ende her gesehen bleibt er durchgängig rot. So erscheint die Farbe beweglich, wie flüssig. Er hat die Farbe verdünnten Blutes, die Farbe von blasser Haut, aber auch die von Gelees aus Brombeeren oder vom blassen Gelbgrau reifer Stachelbeeren und auch von ganz stark verdünntem Himbeersirup. Manchmal blitzt am Rand ein Purpurviolett auf.
Das Gewicht des Turmalins schätzte ich auf etwas mehr als 5 Carat. Der Prinz war beeindruckt von meinem Wissen und verriet, dass das genaue Gewicht 5,23 (!) Carat sei. Vielleicht hätte ein anderer Edelsteinschleifer diesen Stein verworfen, oder in einer anderen Richtung geschnitten und geschliffen, den Dichroismus als Fehler gesehen. Für mich aber ist es ein Zeichen der Einzigartigkeit des Steins und ich bin dem Prinzen sehr dankbar für seine neuerliche Großzügigkeit. Durch die Raffinesse seiner Rätsel wurde meine Kunstkammer um eine weitere Kostbarkeit bereichert. Ich schenkte dem Prinz als Gegengabe einen seltenen Rheinfund, einen Limonit mit vielen Abdrücken von Turritella, der fossilen Turmschnecke.

Turmalinbrillantring auf Seidenschal und alter indischer Stickerei, Fotografie RW, 2019, Entwurf und Herstellung des Rings Blumberg & Caspers, Düsseldorf, unter Verwendung von Steinen aus der Sammlung RW, https://blumberg-caspers.de
siehe auch den Beitrag «Precious Stones» vom 29.01.2019