Das Geheimnis


Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil verrät: In seinem Roman Fermer von 1979 gibt es eine Textstelle, die durch ein Foto von Imogen Cunningham inspiriert wurde und zwar ihr Porträt von August Sander vor seinem Westerwälder Haus*. Der junge Fermer, auf der Flucht vor möglicher Strafverfolgung wegen Desertierens, findet für ein paar Tage Unterschlupf bei einem Außenseiter, der in einer Mühle, weit entfernt vom Dorf, wohnt.
Ortheil schreibt:  «Die Tür öffnete sich, und der Mann, den sie im Dorf immer den <Müller> genannt hatten, stand vor ihm und schaute ihn an.»*
Sofort spürt man, dass dieses Anschauen viel mehr ist als nur ein Akt des Sehens und Wiedererkennens. Es ist die Zusage von Geborgenheit, Wärme, Gastlichkeit und wie sich herausstellt auch die Übergabe von Wissen um die Ahnen und Historien des Westerwaldes an den verirrten Jungen, der daraufhin immer mehr zu sich findet und seinen Weg weiter gehen kann.
Dass ein Foto beim Betrachter etwas Unerwartetes auslösen kann, hat Roland Barthes in «Die Helle Kammer» beschrieben. Er nennt dies das «Punctum». Etwas nicht für jeden Betrachter Sichtbares oder Beschreibbares, was aber ein Erzählen auszulösen vermag, kann sich im fotografischen Abbild verbergen. Bei mir war es die Fotografie «Ernest» von André Kertész. (Siehe mein Blogbeitrag vom 11. Februar 2018)

 
*Hanns-Josef Ortheil in «Die weißen Inseln der Zeit » S. 120 Taschenbuchausgabe 2013, BTB, *Hanns-Josef Ortheil, «Fermer» (1979/2007) S. 189, BTB
Das Geheimnis, nach der Fotografie von Imogen Cunningham, digital bearbeitete Fotografie, RW 2021