Arbeit des Eremiten

Der indische Prinz wollte das Haus nicht mehr verlassen. Die Nachrichten in den social media über Tausende wichtiger Ausstellungen von Künstlerfreunden und weiteren Kunstereignissen in vielen Städten, die er jetzt besuchen sollte, machten ihn krank. Tatsächlich wäre seine erste Reise nach Berlin gegangen zu Donatello in die Gemäldegalerie. Obwohl er viele Werke des seit Jahrzehnten verehrten Künstlers schon in Italien gesehen hatte.
Jetzt beschloss der indische Prinz, eine Weile Eremit zu sein. Er baute sich eine Höhle in seinem Kabinett, wo er in Ruhe Fundstücke und Erwerbungen genau unter die Lupe nehmen konnte. Er drehte und wendete die Scherben. Hatte sich bei einem Henkelfragment ein kleines graues Steinchen in einen Spalt gedrückt? Er wollte es mit dem Messer befreien, da erwies sich das Material als ein sehr weiches Metall, glänzte silbrig, Zinn oder Blei? War es eine zufällige Beigabe des Tons? Oder – da es sich am Henkelansatz befand – der winzige Rest einer ehemaligen Montierung? Darüber, dass er die Fragen nicht beantworten konnte, wurde er traurig, seine neuen Bücher halfen ihm nicht weiter. Er begann die Punkte auf dem Dekor eines besonderen Fragments zu zählen. Seine Freundin hatte behauptet, es wären Filmstreifen abgebildet. Das glaubte er nicht, für ihn waren es seidene Bänder mit Nahtlöchern. Als er dreimal 23 Punkte gezählt hatte, schloss er die Augen und schlief ein.

Scherbe mit Schleifendekor vom Kaiserswerther Rheinufer, Sammlung RW, Fotografie RW, digital manipuliert, 3. September 2022