23 Fiebertauben


Die steinalte Sophia konnte von ihrem Bett aus eine Taube sehen, die sich auf einer kleinen waagerechten Astgabel des hohen Gartenbaumes niedergelassen hatte. Hier konnte der Vogel Gleichgewicht halten, wollte ein wenig schlafen, hielt die Augen geschlossen und schaukelte hin und her. Dann nach einer Weile, hob die Taube den Kopf, als hätte sie ihre Betrachterin bemerkt. Sie blickte mit einem Auge in die Richtung des offenen Fensters, hinter dem Sophia halb aufgerichtet lag. Ruckend bewegte der Vogel den Kopf – stör mich nicht, ich brauche Ruhe, lass mich hier in meinem Gleichgewicht. Die steinalte Sophia aber wandte ihren Blick nicht ab, da begann die Taube sich zu putzen. Zerstreifte ihr Gefieder, der Schnabel glitt über die Brust, blieb fast dort kleben – tat sie da etwas Feuchtigkeit aus dem Schnabel hinein? – Die Flügelfedern bekamen unschöne Riefen, sie sah auf einmal räudig aus. Das gefiel der steinalten Sophia nicht, sie wandte sich ab und überließ die Taube ihrem Schicksal.
Das schöne Taubenhaus im Klostergarten von Seligenstadt mit den 23 weißen Tauben kam ihr in den Sinn und sie bat Einardus, Petrus Martyr, Marcellinus und die 14 Nothelfer um eine rasche Genesung.

Taubenhaus im Klostergarten der ehemaligen Benediktinerabtei zu Seligenstadt, Fotografie RW 2022