Wiederum ein Märchen

Als der Geschiebesammler vor etwa zehn Jahren am Niederrhein nach Maaseiern suchte, sah er direkt am Spülsaum im flachen Wasser etwas Goldenes glänzen. Mit dem Fuß befreite er das Stück von Sand und Geröll. Dann konnte er es greifen. Es war ein goldener Ring mit einem blassblauen Stein. Der Stein hatte kleine Abplatzer an den Facetten, das Gold war an der Oberfäche zerkratzt und die Ringschiene mit der Punze 585 hatte einen Riss. Er brachte ihn zum Fundbüro und gab eine Anzeige auf: Goldener Ring mit blauem Stein gefunden. Niemand meldete sich. Nach einem Jahr erhielt er den Ring zurück und nahm ihn mit zu einem Edelsteingutachter. War es ein Topas oder ein Aquamarin? Der Gutachter schaute sich den Stein unter dem Refraktometer an und bestätigte: Das ist ein Aquamarin. Dem Finder gefiel die Ähnlichkeit des Steinnamens zum Fundort am Fluss.
Er hat den Ring nie getragen, sondern seiner Großtante Sophia geschenkt, die ihn ebenfalls nie trug und ihn in ihrem Schmuckkasten versenkte.

An einem Wintertag vor dreiundzwanzig Jahren war eine Frau nachmittags in der Dämmerung am Rheinufer spazieren gegangen. Sie hatte ihre Handschuh vergessen und wegen der Kälte ihre Hände in die Manteltaschen gesteckt. Ihr war ein wenig grau zumute, wollte sich mit dem Taschentuch die Nase putzen und die Augen trocknen. Dann bückte sie sich, um aus dem dunklen Geröll einen besonderen Stein aufzuheben, der ein helles Kreuz aus feinen Quarzadern besaß. Das nehm ich als Zeichen, dachte sie. Wieder zu Hause angekommen, bemerkte sie, dass der goldene Ring an ihrer rechten Hand fehlte. Ich vermisse Dich nicht, sprach sie und legte den Stein vom Rhein auf die Fensterbank.

Goldener Ring mit Aquamarin auf der Fossilkalkplatte des alten Likörtischchens, Fotografie RW 2020