Verwirrung an Maria Himmelfahrt


Am Tag der kirchlichen Trauung ihrer Tochter trug die Mutter eine weiße Bluse. Sie hatte die goldene Königskette angelegt und eine lange Perlenkette dazu. Ich weiß, dass sie dieses lange Sautoir sehr mochte und es später nicht schön fand, dass die Perlen zu einer zweireihigen, engen Halskette umgearbeitet wurden, nur weil ein rubinbesetztes Kettenschloss übrig war. Am rechten Ringfinger kombinierte sie mit ihrem Ehering einen weißgoldenen Brillantring. Den Ring mit dem 0.42 Karäter hatte sie von ihrem Ehemann bekommen. Am Mittelfinger der linken Hand trug sie einen goldenen Ring mit 5 Brillanten (was mich wundert, war er ihr zu weit für den Ringfinger geworden? Überhaupt sieht sie auf diesem Foto sehr schmal aus) ebenfalls von ihrem Mann geschenkt, vielleicht aus Anlass der Geburt des fünften Kindes.
– Nun bin ich komplett verwirrt, die rechte Hand ist links und die linke rechts. Ist das Foto seitenverkehrt? Nein, das konnte ich anhand anderer Details überprüfen. Trug sie den Ehering links, weil ihr sämtliche Ringe zu weit geworden waren? Ich sehe auch eine Uhr unter ihrer Blusenmanschette hervorblitzen, die Uhr trägt man links. Außerdem hält sie ja mit rechts die Kuchengabel und sie war Rechtshänderin –
Die Mutter war vor dem Hochzeitstag beim dörflichen Friseur gewesen und hatte sich, was außerordentlich selten war, die Fingernägel lackiert. Für die Hochzeitsgäste hatte sie am Nachmittag kleine Kirschtörtchen vorbereitet.
– Weiß die Mutter, dass sie fotografiert wird ? Sie lächelt mit geschlossenem Mund. Sie blickt nicht auf, schaut auf ihren Kuchenbissen –
Aus ihrer feinen Miene, die ich ja sehr gut gekannt habe und die oft wie von innen kontrolliert wirkte, schließe ich, dass sie an diesem Tag doch sehr froh und stolz war.

Am Kaffeetisch, Fotografie 1983, Familienerbe RW