23-10-23 Goldkopf

Heute zeige ich zu Ehren des Symmetrietages 23-10-23 einen Johannesteller «aus purem Gold». Das Motiv des abgeschlagenen Kopfes von Johannes dem Täufer fasziniert mich seit Jahrzehnten. Wieso ist gerade dieser «Ausschnitt» aus dem Leben des Täufers zu einer eigenen Kunstform, einem eigenen «Bildnis» geworden? Losgelöst von den biblischen Erzählungen über den Propheten –  die Taufe Jesu im Jordan, Herodes und seiner zweiten Frau Herodias, die der Täufer öffentlich gerügt hatte, der Tanz der Salome bei dem Festmahl, die Gefängnisstrafe, die Enthauptung selbst.
Teller und abgeschlagener Kopf haben sich verselbständigt, werden zum «reliquiaren» Gegenstand. Angeblich erheben vier Schädel-Reliqiare den Anspruch vom heiligen Johannes zu sein, einer davon im französichen Amiens wunderbar eingeschlagen in goldene Bänder auf goldenem Teller liegend. Die Ikonografie des Johannestellers vermischt sich manchmal auf seltsame Weise mit dem Gorgonenhaupt. In den Metamorphosen des Ovid finde ich die Medusa, deren Blut im Wasser zu roten Korallen erstarrt, nachdem Perseus ihr den Kopf abschlug. Ich denke an die berühmte Medusa von Caravaggio auf dem Tondo – das Spiegelbild auf dem Schild des Perseus? Ich kenne Johannesteller aus der alten Kunst, die ähnlich drastische, leidensverzerrte Gesichter und plastische Blutrinnsale (bei Medusa Blut und Schlangen) tragen.
Heute schmücke ich meine Arbeit mit zwei goldenen 23-Medaillen, die genau zum heutigen Datum 23-10-23 passen.

Rot glasierter Keramikkopf mit Pappmaché-Korallen auf einem alten roten Porzellanteller und zwei 23-Plaketten, digital veränderte Fotografie, RW 23.10. 2023

Die Jahresliste

Am Abend saßen drei Menschen am Rhein und betrachteten den Fluß. Jeder auf seiner eigenen Bank. Der Rhein hatte, wie in den letzten Jahren häufiger, Niedrigwasser. Die Böschung des gegenüberliegenden Ufers wirkte ungewöhnlich hoch. Gleich würde die Sonne ein wenig weiter westlich, etwa auf Höhe des Wasserturms untergehen. Unzählige feine Spinnfäden waren ins flache Gras gewebt worden, nur einer schwebte noch rechts wie ein isolierter Sonnenstrahl oder eine gerade gezogene Drachenschnur steil nach oben – das ist der Altweibersommer.
Die steinalte Sophia hatte eine Liste erstellt. Diese zeigte vierzehn Eintragungen. Die Jahreszahl 1992 stand oben, dann setzte sie mit 2018 eine zweite und eine dritte für 2021. Für 2022 setzte sie zwei und für 2023 neun, das letzte Datum war der 28. September. Das war die Liste der Toten, ihrer Bekannten und Freunde aus der Kunst. Nun es ist nichts Neues, dass die Menschen sterben. Es sterben sekündlich Tausende und es werden sekündlich Tausende geboren, schon allein in meinem Radius, sagte sie sich wie zur Beruhigung. Die Liste für 2023 war ihr jedoch schon zu lang. Wie kurz ist sie aber angesichts der Toten der aktuellen Kriege, von denen ich in den täglichen Nachrichten höre.

Abend am Rhein, Fotografie RW, 25. September 2023

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Die graue Jacke


Heute finde ich ein Foto von einem Sommer in der Schweiz. Meine Schwester fotografierte mich auf einem Balkon über dem Vierwaldstättersee bei Gersau. Ich betrachte mit der Zehnfach-Lupe Mineralien, die ich auf der Baustelle des Gotthard-Basistunnels – frisch aus dem Tunnel, vor dem haushohen Bohrkopf gerettet vom Strahler Peter Amacher selbst – gekauft hatte. Auch liegen noch Mineralien dabei aus der Gegend um Sedrun in Graubünden, wo es einen Zugang zur Baustelle des Tunnels gab. Bergkristalle, Quarzstufen mit Pyrit und Chlorit, Rauchquarz, eine Hämatitrose mit orientiert aufgewachsenem Rutil und Morion, der fast schwarze Quarz.
Bei Altdorf in Uri konnte man die Bausstelle der NEAT in diesem Sommer besichtigen. Meine Schwester und ich fuhren mit Bussen tief in den Bauch des Berges, gingen dann weiter zu Fuß bis zum Bohrkopf. Ich hob einen unspektakulären grauen Stein aus dem Berginnern am Rande des Weges auf, der hätte sonst nie das Licht der Welt gesehen – man sieht ihn vorne auf dem Tischchen liegen.
Die graue Jacke, die ich auf dem Foto trage, ist warm, vielleicht war es ein kühler Augustabend. Und, was soll ich sagen, dieselbe Jacke trage ich jetzt, auf dem Laptop schreibend mit Blick auf den Rhein, am heutigen Sonntag, den 8. Oktober 2023 … zwanzig Jahre nach der Aufnahme hat dieser banale Zufall mich schockiert. Ein punctum (im Sinne Roland Barthes‘)?
Hanns-Joseph Ortheil schreibt in seinem Buch KUNSTMOMENTE, das er mir freundlicherweise zuschickte, auf Seite 34: »Das »Studium« bleibt aber, Roland Barthes zufolge, beim Betrachten von Fotografien nicht allein. Oft gesellt sich vielmehr ein zweites Moment der Beobachtung oder des Blickes hinzu, das er »punctum« nennt: »»Das zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).««
Auch dafür habe ich Beispiele* gegeben: Der Sonnenhut meines Onkels, das Lächeln des Vaters, die Milchkanne und die bereitgehaltenen Tassen der Geschwisterrunde – sie nahm ich als einzelne Momente eines punctum wahr: bestechende, entwaffnende, sprachlos machende, wie ein Blitz erscheinende, höhere Zufälligkeit. Solche Momente entwerfen keine »Bedeutung«, sie sind keine Repräsentanzen eines möglicherweise »ländlichen Lebens« wie auf einem Gemälde.
Nein, sie erscheinen plötzlich, durchsetzen das nervöser und fiebriger werdende »Studium« und verankern im Betrachter die Gewissheit, von einem sehr direkten Impuls des »Lebens an sich« getroffen oder berührt worden zu sein.«
Ist die graue Jacke ein echtes punctum? Einem anderen Betrachter des Bildes wird sie nichts geben. Nur ich als wissende, vom Zufall der Ereignisse getroffene Archivsucherin kann hierin ein punctum sehen. Die Überlegungen Ortheils bestätigen mich darin – für mich ist sie eine Spur des Lebens.

*Ortheil bezieht sich hier auf Familienfotografien, RW
Zitat aus Hanns-Joseph Ortheil »KUNSTMOMENTE, Wie ich sehen lernte«, btb, 2023
Sommer in Gersau am Vierwaldstättersee, Schweiz, Fotografie Stefanie Weber, August 2003
 

Nebel in der Eifel und dann strahlend blauer Himmel

Auf dem Weg in das Großvaterdorf hing am Sonntagmorgen noch der Nebel auf der Anhöhe. Der Baum, der die Höhe markiert, war noch schöner als sonst. Traumverloren, mit diesem so bekannten Wort, benannte ich ihn. Ich saß nicht am Steuer meines Autos und konnte so seinen Gruß mit dem Smartphone festhalten. Hinter ihm hört die Welt auf, wie das der Nebel meist so vorgaukelt – und so spricht der Baum – sei bloß vorsichtig – pass auf – ich bin ein Trugbild.
Unten im Dorf scheint die Sonne vom ultrablauen Himmel auf das schöne alte Haus mit dem roten Sandsteinportal, der Wein hängt voller schwarzer Trauben und meine Geschwister lachen.

Nebel in der Eifel, am Sonntag den 24. September 2023 Fotografie RW 2023

Elfenbeinturm 23-9-23

Der Elfenbeinturm des indischen Prinzen ist nicht aus den Stoßzähnen eines prähistorischen Olifanten, sondern aus leicht transluzentem Carrara-Marmor gemacht. In Italien ließ der Prinz die Stockwerke, Stufen, Fensterchen und Türmchen in präziser Säge- und Meißelarbeit aus einem soliden Block herausarbeiten. Den Vorwurf des Kitsches wies er weit von sich. Stattdessen hatte er für das Türmchen in der Stadt am Rhein ein großes Gebäude als Aufbewahrungsort in Auftrag gegeben. Auf der 23. Etage des großen Ebenbildes sollte das kleine Kunstwerk in einem gläsernen Tresor stehen. Das große Gebäude war fast 90 Meter hoch und bislang mit Baugerüsten und Planen abgedeckt. Die Passanten auf der Königsallee ließ das Ganze unberührt. Sie gingen vorbei, schauten vielleicht einmal in ein Schaufenster oder auf das Display ihres Smartphones.

Eingerüstete Johanneskirche in Düsseldorf, Beitrag zum 23. 9. 23, Fotografie RW

«Stromstoß vom anderen Stern»

In die in Ton geknetete und bei gut 900 Grad gebrannte Landschaft ordnete ich eine unspektakuläre Bergkristallgruppe aus Brasilien, das obere Ende eines orientalischen Kerzenleuchters (auf dem Kopf stehend) und ein am Rhein gefundenes Ästchen in gegenseitiger Zuneigung an. Dann entnahm ich aus der Schatulle des indischen Prinzen vier goldene Ringe. Zwei davon hängte ich auf den Ast und zwar die mit den solitären Diamanten – einer davon im alten Peruzzi-Schliff, leicht aus der Ringschiene hochstehend, der andere in einem anderen Altschliff, vertieft in einer mit Sternenfurchen versehenen Grube gefasst, antique gypsy style, sagt man. Mit den zwei weiteren Goldringen bekrönte ich das Messingglöckchen, unten der breite schwere Goldreif, darüber der goldene Bandring mit den gefassten Edelsteinen – Saphir, Diamant, Rubin und Smaragd. In der Ringschiene gibt es eine Gravur – Vater, Mutter und ein Datum mit der Quersumme 23.
Diese Korrespondenz provoziert in meinem Kopf eine Spannung, die ich eigentlich schon kenne. Und soll sie sich doch bitte entladen und zwar so plötzlich und unvorhergesehen, dass mein Kopf zur Seite fliegt und ich den Mund weit aufreiße. Nach dem Ruck streiche ich die Haarsträhne wieder glatt, die sich gelöst hatte.

Headline von der Autoseite in der FAZ und neue Kombination, Sammlung RW, Fotografie RW 10. September 2023

Im fremden Garten

In der Früh verfolgen sich zwei Eichhörnchen nur zum Spaß auf den borkigen Ästen der kaukasischen Flügelnuss. Die grünen Halsbandsittiche kreischen, aber wenig aufdringlich. Ein Morgentaunebel bildet den Hintergrund. Die jungen Fruchtstände am Baum hängen sehr altmodisch wie Christbaumlametta unter den gefiederten Blättern. Eine Taube ist allein, sucht weiter unter dem Baum unbeirrt nach Krumen. Aber die Elstern, die Elstern hab ich vergessen, sie scheppern ein wenig dazwischen. Die sonnigen grünen Schattenflecken auf dem Rasen zeigen den kommenden Mittag und so schlägt auch die nahe Kirchenglocke zur elften Stunde. Ein schöner Ort.

Im Garten des Marienhospitals, Sonntag der 3. September 23, Fotografie RW

23-8-23

Die steinalte Sophia genoss ihre Unabhängigkeit, sie konnte tun und lassen was sie wollte. Viel Zeit hatte sie aber nicht. Heute am 23. August des Jahres 2023 nahm sie sich die Zettel, ausgeschnittenen Zeitungsartikel und Buchstapel, die sich rings um ihren Tisch angesammelt hatten, vor und zählte auf, was sie versäumt hatte zu lesen und was sie noch erforschen wollte:
1 «Das geheime Auge im Leichentuch» auf der Pieta von José de Ribera
2 Die Flugstrecken der bedrohten Zugvögel wie Kuckuck und Mauersegler
3 Den Text des Künstlers Marc von Criegern im neuesten Club Journal des Malkastens Düsseldorf
4 Die Taten des SS-Mannes Jürgen Stroop und das Warschauer Ghetto
5 Den Artikel zum 90. Geburtstag von Georg Bussmann
6 Die Folge 23 aus den Tagebüchern von Cornelia Schleime
7 Die Liste der Festspielorte im Sommer 23
8  Das Buch «Die künstlichen Paradiese» von Norman Miller
9 Weiter im Buch «Stein» von Jeffrey J. Cohen
10 Die Namensliste in der Todesanzeige von Peter Weibel
11 Über den Ausstieg aus der Kunst, das «Schweigen», von Marcel Duchamp vor 100 Jahren
12 Über und von dem Lyriker und Schriftsteller Lutz Seiler
13 Das Gedicht «Von Engeln» von Czesław Miłosz
14 Über den 90. Geburtstag von Rudolf Zwirner
15 Über den Galeristen Max Stern 1904-1987
16 Über J. M. Coetzee im Prado
17 Über den Krypto-Gauner, der den schwarzen Diamant « ENIGMA» kaufte
18 Endlich mal was von Wolfgang Herrndorf
19 Das Fotobuch der verstorbenen Freundin mit Porträts von 1980 bis 2021
20 Weiter im Buch von Jan Volker Röhnert «Gehen im Karst»
21 Weiter im Buch von Katja Petrowskaja «Das Foto schaute mich an»
22 Wiederlesen «Die Pariser Abende des Roland Barthes» von H J Ortheil
23 Weiter im Buch «Art Stories – Liber Amicorum in Honour of Gregor J M Weber»

Antiker Schiffchen-Ring mit geheimer Botschaft der Edelsteine Amethyst, Diamant, Opal, Rubin, Emerald (Smaragd), digital bearbeitetes Bildschirmfoto vom 23. 8. 23

Am Meer

Wir gehen am Spülsaum des Meeres. Es ist Ebbe, der Strand sehr weit. In den Prielen ist das zurückgebliebene Wasser warm. Die Wellen bringen in stetigem Rhythmus kühles Wasser und lassen es in runden Halbflächen zurückfließen. Mir wird schwindelig ob glitzender Spiegelungen und den sich überkreuzenden Rückläufen. Den Blick also nicht auf den Boden, sondern geradeaus nach vorn, oder besser nach oben in die schönen Wolken hinein. Sehr lange schon sind wir nicht mehr mit nackten Füßen durch die Wellen gelaufen. Die Hosen haben wir bis zum Knie hochgekrempelt, da die Wellen manchmal überraschend heftig kommen. Vielleicht gehen wir morgen sogar schwimmen. Das sommerliche Nordmeer haben wir meist gemieden, um dem Massenansturm zu entgehen. Nun sehen wir, dass die vielen Meeresbesucher sich in der großen Uferweite verlieren. Wir gehen anderthalb Stunden in Wind, Sonne und Wellen bis zum nächsten Badeort – dort kehren wir in ein und genießen das heerlijke appelgebak met kaneel en slagroom.

Zwischen Bergen aan Zee und Egmond aan Zee, Fotografie RW, 16. August 2023

Zeitraffer

An der Wand hängen die Familienfotos. Die Verstorbenen hängen links, die Lebenden rechts von der Uhr. Urgroßeltern, Geschwister, der Vater als Kind, die goldene Hochzeit, die verstorbene Mutter. Es ist Ostern. Die junge Frau am Tisch kommt spät zum Familienkaffee. Um Zehn nach Fünf will sie lieber schon zu Abend essen. Reste vom Mittagessen wurden für sie aufgewärmt. Zu ihrer Rechten sitzt im ursprünglichen Foto ihr Großvater, zu ihrer Linken ihr Ehemann. Das junge Paar hat den ersten Sohn, das Urenkelkind, gerade ein paar Monate alt, dem Urgroßvater, Großtanten und Onkel und zum ersten Mal gezeigt.
Aber das Punctum (im Sinne Roland Barthes‘) im Foto ist hier ein besonderes Geheimnis. Das weiß nur ich. Aber gleich will ich es verraten. Ich fotografierte noch mit der Kamera, nicht mit dem Smartphone. Die Fuji X10 war damals, 2017, mein ständiges Vademecum. Der tägliche Begleiter, der die gesehenen Notizen zuverlässig barg. Und nun hat mich das Vademcum in das Punctum gebannt, in die Familienszene, wie ich sie selber sah. Ich entdecke mich als Fotografin links bei den Verstorbenen im ovalen Rahmen, deutlich der Zeigefinger gekrümmt über dem Auslöser. Heute am Sonntag, den 13. August im Jahre 2023.

Besuch beim Vater,  invertierter Ausschnitt der ursprünglichen Fotografie aus dem Familienarchiv 2023, Fototografie RW, Ostern 2017