Ich bin so glücklich – während ich schreibe, kann ich über den oberen Rand des Bildschirms schauen. Ich sitze direkt am Fenster. Hinter dem Stoppelfeld kann ich die Ostsee sehen. Es ist sehr ruhig, nur die Spatzen schimpfen die ganze Zeit, nicht aufdringlich, aber gut hörbar. Die Schwalben fliegen höher und höher – der Luftdruck hat sich verändert. Sie scheinen eine wahre Freude zu haben beim Mückenfang und nicht nur das, sie fliegen Kunststückchen, treffen sich im Flug, drehen ein paar gemeinsame Kurven. Der Himmel ist strahlend blau mit ein paar zerstäubenden Federwölkchen. Das Meer setzt sich noch tiefer blau gegen den Himmel ab. Je später es wird, um so schärfer zeichnet es eine immer präzisere Grenze am Horizont.
Die Beine hab ich hoch auf die Fensterbank gelegt. Den Computer auf dem Schoß. Ich hab mir ein Weinglas gefüllt, und es wird Abend. Die Luft ist so frisch, so fein. Die weißen Bäuche der Schwalben blitzen im tiefen Sonnenlicht. Die Glocken der Schlosskapelle schlagen jetzt acht Mal. Es ist eine feierliche Stimmung, eine große wunderbare Ruhe und jetzt rieche ich sogar das Meer. Ist das denn möglich? Es ist etwa sechs Kilometer weit von meinem Fenster entfernt.
Aber eins muss ich noch sagen als Zugeständnis an die Betrachter des Fotos – ich habe das Bild verändert. Mit Hilfe von KI habe ich einen Plöner PKW, der neben der großen Kiefer parkte, ausradiert.
Die Tiere, die ich vergessen habe – Fuchs, Gans und Reh…
Am Ufer des Sees erschrecke ich vor einer weit entfernten Gestalt zwischen den hohen, alten Bäumen. Näherkommend sehe ich den albernen Fuchs, der aufrecht steht und eine rote Jacke trägt. Auf der Landstraße tritt ein Reh aus dem Wald hervor. Warnschilder haben uns schon aufmerksam gemacht, so dass wir vorsichtig und langsam fahren. Das Tier schaut kurz und entscheidet sich dann, schnell durch ein Loch der Hecke eines Vorgartens zu verschwinden. Gestern Abend, auf der Rückfahrt vom Meer, sehen wir in der Dämmerung ein Hirschkalb mit wenigen weißen Punkten auf dem Fell vom rechten Straßenrand herantreten. Ich fahre sehr langsam und halte an. Es läuft über die Straße zum Waldrand, zögert kurz, blickt in unsere Richtung und kehrt wieder um, verschwindet im Gebüsch.
Auf den Gewässern und auch auf den Pferdekoppeln haben sich die Kanadagänse breit gemacht. Sie werden nicht mehr bestaunt und bewundert ob ihres schönen Federkleides. Im Gegenteil, sie werden als lästig angesehen, überall sieht man ihre dunklen Kothaufen. Der braungrauen Entenmutter, in deren Gefolge zwölf Küken schwimmen, widme ich einen kleinen Film mit dem Smartphone. Die auf dem Uferweg dösenden Männchen der Stockenten wollen uns noch nicht einmal Platz machen, stattdessen stecken sie ihre smaragd- und ultramarinfarbenen Hälse ins Gefieder. Den Ohrenklemmer im Bad heute Morgen und die Bremse auf der Wanderung zum Hessenstein erwähne ich nur am Rande.
Geschnitzter Fuchs im Wald bei Sudermühlen, Fotografie RW, Juli 2025
Aufzählung der gesehenen Tiere
Ein winziges Wiesel sehe ich an einer Hecke zweimal auftauchen, rotbraunes Fell mit weißer Brust. Eine kleine Haselmaus huscht über den Weg, wohl auf der Flucht vor dem Wiesel. Über die Hecke hin zum tief geduckten Backsteinhaus weiter zu den Apfelbäumen fliegen an die dreihundert lärmende Spatzen auf und nieder. An der zweihundertjährigen Eiche dösen etwa zehn braunfellige Stuten mit sechs Fohlen. Nahe dem gestauten Mühlenbach versuchen Miniaturausgaben von graugrünfleckigen Kröten über den Kies zur nahen Wiese zu kommen. In hohen Kastanien, Linden und Kiefern rund um die Schlosskapelle gegenüber dem Herrenhaus singen Buchfinken, Amseln und Singdrosseln. Auch einen Eichelhäher höre ich. In Scheune und Stall schwärmen die Schwalben unermüdlich aus und ein. Über dem großen Teich fangen sie ihre Beute mit einem Glitzern direkt an der Wasseroberfläche. Blau leuchten die Libellen. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch, müde Fliegen setzen sich auf die Haut und springen beim Verjagen nur ein Stückchen weiter. Lediglich eine Wespe kommt vorbei, um sich etwas vom gefüllten Teller zu holen. Ein Kabeljau zeigt unter der Panade seine Flosse und die langen bleichen Knochen. Am sanften Meer entdecke ich weit draußen einen Seehund, sehr groß, nur ab und zu auftauchend, mit langem Leib und kurzer Flosse und weiße kleine Seevögel haben sehr spitze Flügel. Die Ostsee sehe ich vom Fenster des Gästehauses je nach Himmelsfarbe als blauen oder grauen Streifen am Horizont. Das Klappern von Hufen auf den kopfsteingepflasterten Wegen und das kurze Wiehern aus den Ställen beruhigt die Sinne, ich könnte schlafen und schlafen und im Schlaf erinnere ich mich an das milde freundliche Ostmeer, in dem ich mit zwölf Jahren schwimmen lernte.
Kirchengitter von St. Michaelis zu Lützenburg, Ostholstein, Fotografie RW, 15. 7. 2025
Le Dauphin et le Pêcheur
Gestern bekam der indische Prinz eine Gravure attribuée à Nicolas II de Larmessin geschenkt. Der Schenkende hatte sie selbst mit Aquarellfarben koloriert, dabei aber auch Gold- und Silberfarben für die Fische verwendet. Die Druckwerkstatt des Larmessin befand sich Mitte des 17. Jahrhunderts in Paris auf der Rue St Jacques in der Nähe der Kirche St. Severin. Der Schenkende erzählte, dass er den Druck in Lissabon erworben hatte, zusammen mit weiteren Blättern aus der Reihe Les Costumes grotesques et les métiers. Da gibt es den Optiker, den Stellmacher, den Bäcker, den Musiker, den Maler, den Mediziner, den Letternmacher, den Kerzenmacher etc.. Der Laden in Lissabon muss nach den Schilderungen des Schenkenden sehr kurios gewesen sein. Der Antiquar haust dort inmitten von hunderttausend Dingen zusammen mit seiner alten Mutter. Ein eigenartiger Geruch füllt den verstiegenen Raum, und so hat der Schenkende die Blätter erst in einem zweiten Anlauf erworben.
Das vorliegende Blatt gefällt dem indischen Prinzen sehr, alle Meerestiere sind mit Namen beschriftet, meist kennt er diese aus der französischen Küche: die Haare des eleganten Fischers bestehen aus kleinen, sich kringelnden Aalen und Neunaugen, ein Delphin muss als Hut herhalten. Barsch, Meeräsche und Schleie bilden seine Weste, ein langer Stör zeigt eine Knopfleiste an. Am Aal-Gürtel hat er Dorsch, Hecht und Seelöwe hängen – wobei der Seelöwe wie ein Fisch aussieht – vielleicht ist der Loup de mer gemeint. Auf Kniehöhe trägt der Pescheur einen Taschenkrebs. Die gesamte Figur, im raffinierten Kontrapost am Meeresstrand stehend, erinnert an die höfische, französische Mode zur Zeit Ludwigs XIV. Zumal das französische Wort für Delfin Dauphin ja auch einen Prinzen meint – Louis de Bourbon (1661–1711), Dauphin von Frankreich und Sohn Ludwigs XIV hat Larmessin 1680 in einer Gravur verewigt. Fast sieht es so aus, als wäre dieser Fischer ein Porträt des Dauphin, die vielen Locken, das Gesicht – eine verblüffende Ähnlichkeit.
Der Graveur Larmessin hat bekanntlich viele Porträts königlicher Familien gestochen. Der indische Prinz erfuhr zu seiner großen Freude, dass dabei ein eindrucksvolles Bildnis des indischen Mogul-Kaisers Aurangzeb ist, über den und dessen Familie John Dryden 1675 ein tragisches Drama schrieb. Der Prinz wusste, dass er in dreiundzwanzigster Linie mit dem Mogul verwandt war. Zum Abschluss seiner Betrachtungen hörte er sich gleich Henry Purcells Musik zu diesem Drama an.
Handkolorierte Gravure (von Carl Friedrich Schröer) des «Habit de Pescheur» von Nicolas II de Larmessin, geschenkt an RW, 30. Juni 2025
Treffen im Zeit- und Raumkontinuum
Echte Brillantaugen, also Milliarden, Millionen Jahre alte Kohlenstoffkristalle, geschliffen, setze ich dem Keramikkopf ein, heb ihn auf ein grünes Glasväschen und stecke noch Stöpsel von Glasflakons aus Ägypten oder Marokko in die Öffnungen. Der linke Augen-Brillant hat einen schwarzen Einschluss, mit der Lupe, fast schon mit dem bloßen Auge, sichtbar. Ein Kohlerelikt aus seiner Entstehungszeit? Der Juwelier würde die Reinheit mit Piqué II bezeichnen. Jeder Diamant ist ein einzigartiges Individuum, ich habe große Ehrfurcht vor den Kristallen.
Der älteste datierte Diamant hat ein Alter von circa 4,25 Mrd. Jahren, erfahre ich im Netz. Diamant ist reiner Kohlenstoff (C), eins der wichtigsten chemischen Elemente, das zur Entstehung von Leben notwendig ist. Im menschlichen Körper ist Kohlenstoff in den Proteinen, Fetten und Kohlenhydraten enthalten. Gibt es in meinem Körper noch identische Kohlenstoffelemente, die ich von meinen Eltern und Vorfahren erhalten habe?
In SWR Wissen höre ich von Claudia Neumeier: Warum besteht das Leben aus Kohlenstoff?
Es gibt 118 chemische Elemente im Periodensystem. Von diesen 118 Elementen gehören nur 6 zu den Bausteinen, aus denen sich Lebewesen zusammensetzen: Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Phosphor und Schwefel. Kohlenstoff ist mit Abstand der wichtigste dieser Bausteine. Zwar besteht der menschliche Körper zu etwa 60 Prozent aus Wasser, aber beim eigentlichen organischen Material, bei den Zellen, den Proteinen, der DNA spielen Kohlenstoffverbindungen die Hauptrolle. Sie bilden das Gerüst, das alles zusammenhält…
Ich habe gelernt: Bei der menschlichen Fortpflanzung geben beide Elternteile in den meisten Fällen je 23 Chromosomen an das Kind weiter. Desoxyribonukleinsäure, kurz DNA, besteht, vereinfacht gesagt, aus Zucker, Phosphat und Basen. Desoxyribose ist ein einfacher, aus fünf Kohlenstoff-Atomen (!) bestehender Zucker, der das Rückgrat des DNA-Strangs bildet. Also gaben mir meine Eltern ihren Kohlenstoff mit.
Ich rechne mein Alter in die Mit-Eltern- und Elternlose-Zeit. Ich durfte die Mit-Eltern-Zeit fast siebenundsechzig Jahre leben. Eltern erscheinen des Nachts in den Träumen und sind so auch nach ihrem Tod anwesend. Also ist die Traumzeit noch eine andere Zeitdimension. Eine zusätzlich geschenkte Zeit, in der die Erinnerungen gespeichert werden und nach geheimnisvollen Gesetzen neu kombiniert werden.
Neue Kombination aus grünglasierter Keramik mit Brillantaugen auf grünem Glas, Sammlung RW, Fotografie RW am Sommersonnenwendetag 21. Juni 2025
Das Meer im Stein
In den Morgenstunden träumte ich vom Meer – mit einer anderen Person, die mir vertraut war, beobachtete ich die blaugraue See. Mehrere Boote und Schiffe waren unterwegs. Wir standen sehr nah auf dem gemauerten Kai. Die Wellen wurden heftiger. Ein langes Schiff wie eine Fähre, gefüllt mit Personen und Fahrzeugen – rot, rot war es – schob sich durch das Wasser. Dann wurde der Sturm so stark, dass es heftig auf und nieder tanzte in den steigenden Wogen bis sie gewaltig über das ganze Schiff klappten und es verschwand. Kurz zuvor hatte ich noch einen laufenden, dunklen, sehr großen Menschen an Deck gesehen.
Am Frühstückstisch las ich in der FAZ ein fragmentarisches Gedicht von Thomas Mann.
Ich bin ein Bergmann
Ich bin ein Bergmann in der Seele Schacht
Und steige still und furchtlos dunkelwärts
Und seh‘ des Leidens kostbar Edelerz
Mit scheuem Schimmer leuchten durch die Nacht …
Diese Zeilen erscheinen im 23. Kapitel seines «wildesten Romans», dem Doktor Faustus von 1947 schreibt Mathias Mayer in der Frankfurter Anthologie der FAZ. Sofort funkelt bei mir die Verbindung mit der 23, und weiter auch meine Steine, die aus den Tiefen der Berge stammen. Das Edelerz, Silber und Gold schimmern in meinen Kästen und in der Nacht und im Dunkeln leuchtet das Leiden und im Traum wird es wahr und der Träumende wird stets gerettet, darf furchtloser Betrachter sein. Ich finde mein stürmisches Meer abgebildet im Stein aus der Tiefe und füge alles zusammen.
Achat, wohl aus Brasilien mit Feder- oder Wellenfiguren, Sammlung RW, Fotografie RW, 7. 6. 25
Zeit
Ein Steinschneider hat dieses Bildnis einst aus einem Lagenstein geschnitzt. Ein Goldschmied hat es in den Rahmen gesetzt, verziert mit einer Schleife und 38 Naturperlchen im Verlauf. Auf der Rückseite hat das Medaillon noch ein Fach, aber die Glasscheibe fehlt, so dass keine Haarlocke, kein Stückchen Stoff, kein Zähnchen untergebracht werden kann. Die Abgebildete ist sicher nicht als Porträt einer wirklichen Frau gedacht, sondern als Sinnbild für Anmut, Schönheit und Jugend. Der indische Prinz empfindet das Bild als sentimental, aber merkwürdigerweise hat es für ihn nichts Klischeehaftes, sondern das Mädchen scheint, obwohl im Profil, wirklich zu schauen. Sein Ausdruck ist lebensnah. Der indische Prinz hat es wegen der Perlen Margarete genannt, wie aus einem alten Märchen entstammend.
Der Lagenachat wurde gefärbt, so dass die untere Schicht tiefschwarz erscheint und die weiße Schicht etwas grünlich gräulich, nicht kaltweiß. Die Kamée ist schwer, auch das Gold wiegt schwer. Ein kostbares Stück, meint der indische Prinz, aber teuer war es nicht. Oben an der Haube des Mädchens scheint ein kleines Stück der Schleife abgebrochen zu sein, das fällt aber kaum auf. Am unteren Rand des Rahmens ist noch eine alte Abhängung vorhanden, wahrscheinlich hing dort eine größere Perle. Der indische Prinz hat die Kamée im Hunsrück bei einem Antiquitätenhändler gekauft. Dieser konnte aber nichts zu ihrer Herkunft und Entstehung sagen. Wahrscheinlich wurde sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Idar Oberstein geschnitten, dann nach Frankreich importiert, um in Rouen oder Paris gerahmt zu werden. Der indische Prinz dachte an den berühmten Goldschmied Alexandre-Gabriel Lemonnier, der an der Place Vendome sein Geschäft hatte und Hoflieferant Napoleons III. war. Er gab zu – ein bisschen sehr hochgegriffen – aber französisch kam ihm das Schmuckstück schon vor, er hatte ein Vergleichstück bei einer Pariser Schmuckhändlerin gesehen, natürlich viermal so teuer.
Gemme in Lagenachat mit Goldrand und Perlen auf Travertin, Sammlung RW, Fotografie RW, 1. Juni 2025
Der alte Travertino
Einen Stein habe ich mir gesichert aus dem alten Haus Dorgarten. Es ist ein Kalksinter, vielleicht ein Travertin aus Tivoli, den ich von Bauwerken in Rom kenne, seine Herkunft werde ich noch genauer erforschen. Ein Calciumcarbonat, das aus Süßwasserquellen als Quellkalk ausgefällt wird. Ein recht junges Sediment-Gestein aus dem Quartär, also höchstens 2,6 Millionen Jahre alt. Oft bilden sich bei der Ausfällung Pflanzenstrukturen ab. So haben wir als Kinder die Steine auf der unteren Terrasse in Haus Dorgarten nicht nur betrachtet, sondern auch mit unseren Händen befühlt und gespürt, dass manche kühl, andere eher warm waren. Den Travertin nannten wir versteinertes Stroh und hatten damit gar nicht so unrecht. Viele Halme sind an der Oberfläche meines Steines zu sehen. Der Stein war, als wir im Winter 1958 mit der fast achtköpfigen Familie (das sechste Geschwisterchen war unterwegs) in das große Haus zogen, hell, frisch und graugelblich. In den Wänden der Terrasse verbaut mit anderen wunderbaren Steinen, allesamt als quergelagerte längliche Quader in schöner Abwechslung. Ich erinnere mich an rote und grüne Sandsteine, fossilienreiche graue Kalke, sehr weiße Kreidesteine, aber auch an dunkelgrauen Balsalt. Als wir in diesem Frühling uns alle sechs trafen, kamen wir auch an dem lange verlassenen, großen Haus vorbei und sahen, dass dort jemand auf der oberen Terrasse herumging. Es war der Abrissunternehmer, der uns zum letzten Mal ins Haus ließ – und wir baten ihn, uns einige Steine zu retten. Erzählten ihm, dass ein Steinmetz das Haus hatte bauen lassen – eine Schwester behauptete, das sei in den 20er, 30er Jahren gewesen. Wir wissen es nicht, das Internet gibt nichts preis. Hatte unser Vater nicht erzählt, dass die ehemaligen Bewohner des Hauses in den 60er Jahren einmal am Gartenzaun standen und sehen wollten, wer denn die neuen Bewohner seien? Nun, als wir zwei lange Quader Travertin vor dem Zermahlen gerettet hatten, brachten wir sie zu einem Steinmetz und ließen sie in sechs Schnittlinge sägen. Die Oberfläche der Steine war voller Hochofenruss und Industriestaub schmutzig und dunkel geworden. Wie oft war der Himmel im Westen hinter dem Haus zum Hütten-Abstich rot aufgeflammt und der Russ lag im Herbst auf den reifen Früchten der Pflaumen- und Apfelbäume des großen Gartens… Der Steinmetz hat den Stein nicht nur geschnitten, sondern auch gereinigt, so dass nun die hellen Farben wieder zum Vorschein kommen. Ich setze heute sechs meiner neuen grünglasierten Keramiken auf den alten Stein und lasse sie im Chor etwas singen.
Grünglasierte Keramik auf Travertin, Sammlung RW, Fotografie RW, 28. Mai 2025
Wohin
Sollte ich auf Reisen meine Gewohnheiten ablegen? Den Tag anders einteilen als in vertrauter Umgebung? Muss ich jeden Tag zum Meer hinuntergehen, durch die Dünen streifen? Die Böen des Winds erzählen mir etwas anderes: Bleib im gemieteten Haus, leg dich ins Bett auf die zu weichen Matratzen, oder aufs Sofa mit den albernen Kissen. Vergiss die Aufgeregtheit in der Brust und höre die Spatzen schimpfen, die Möwen lachen und beobachte ihren Flug durchs offene Fenster. Und stell dir vor – dann wirst du bald und zwar in südlicher Richtung an der letzten Treppe zum Strand eine Nachtigall hören, die schon am Mittag zwischen Krüppelkiefern und Heckenrosen singen wird.
Mokkalöffelsammlung im Museum in Bergen Noord-Holland, Fotografie RW, 21. Mai 2025
Der Blick aus dem Fenster
Ein Fenster im zweiten Stock des Goethe Museums zu Düsseldorf ist vor der Lesung von Hanns Joseph Ortheil geöffnet. Als ich den großen Raum mit der Porzellansammlung, wo man Stuhlreihen aufgestellt hat, betrete, zieht mich das Fenster mit der unbekannten Perspektive sofort an und ich halte es fest mit einem Foto. Am späten Nachmittag scheint die Sonne direkt aus Richtung Südwest hinein. Draußen flanieren Paare auf der Seufzer-Allee im nahen Hofgarten, das intensive Maigrün der Lindenbäume möchte nach draußen zum Spaziergang locken. Genau mit diesem Anreiz beginnt Ortheil seine Lesung, warum man denn nicht draußen sei im Grünen, das hätte man sich nun selbst eingebrockt, dasss man hier sitze und ihm zuhören müsse. Er liest aus seinem Buch «Nach allen Regel der Kunst – Schreiben lernen und lehren». Was ich mir für mich allein während der Lesung merke: zur Arbeit am Text – sprich nicht mit einem Geschmacksurteil darüber, das hast du jetzt aber schön oder besonders innig gesagt, eine gute Atmosphäre beschrieben – sondern befrage unmittelbar die Gestalt des Textes, wie könnte das Geschriebene noch anders lauten, welche Worte kann ich ändern, Satzteile umstellen. Mal sehen, was passiert, wenn ich ein und dasselbe Motiv mehrmals niederschreibe.
Das Bild vom Fenster, an dem Goethe in Rom steht, gezeichnet von seinem Künstler-Nachbar Tischbein, ist ein intensiver Anreger. Goethe blickt hinunter auf den Corso. Draußen findet das Leben statt. Wir sehen es nicht. Er sieht es und wird darüber schreiben. Als Rückenfigur schlank und lässig, steht er im Kontrapost, stützt sich auf. Den Kopf leicht nach links gewandt, schaut er nach unten. Dieses Beobachten, das Schauen ist das Größte – Ortheil nimmt diese wunderbare Zeichnung in sein Buch auf und bietet sie uns im Goethe Museum als ein Juwel – der Blick aus dem Fenster – was kann da alles noch erscheinen, was mag kommen. Ortheil ist dies seit Kindertagen nah. Er beschreibt oft, wie er als kleiner stummer Junge, stundenlang am Fenster stand in der Kölner Wohnung aus Kindheitstagen. Allein ist er – draußen spielen Kinder, gehen Leute einkaufen, fahren zur Arbeit. Ich kenne das Fenstergefühl sehr gut. In meiner Jugend stand ich mit meinen Geschwistern so oft am Südfenster des großen Hauses an der Landstraße. Wir warteten angstvoll auf die Rückkehr des Vaters oder schauten voller Verlangen die Straße entlang, was sich in der großen Ferne wohl alles noch ereignen mag.