Ostern

An Ostern kam der steinalten Sophia ein merkwürdiger Gedanke – der wievielte Frühling ist es, den ich erlebe? Im August bin ich geboren, ein Sommerkind, das den ersten Herbst und Winter erlebt und dann erst den Frühling. Schon oft hatte sie behauptet, dass der Herbst ihre liebste Jahreszeit sei, aber nun war es deutlicher als je zuvor – jetzt war es der Frühling. Begeistert nahm sie auf jedem Spaziergang die zarten Spieren und die Schneebälle der weißblühenden Büsche wahr. Die rosafarbenen Mandel- Pfirsich- und Kirschblüten waren dieses Jahr besonders üppig. Durch die noch unbelaubten Hecken eines Vorgartens am Rhein hatte sie einen dunkelroten Magnolienbaum neben lachsrosa Kamelienbüschen entdeckt. Narzissen, Tulpen, Hyazinthen, Löwenzahn, Gänseblümchen und Hornveilchen ordnete sie in ihrem Gedächntis nach Farben und Größen. Das war ihr ein willkommenes Training der Erinnerung. Dann ist es nun mein zweiundsiebzigstes Osterfest, wenn ich mich nicht vertan habe, dachte sie. So ein Wunder – ich werde älter und älter, aber die Knospen, Blüten und Blätter sind jedes Jahr einzigartig und frisch, alle sehe ich zum ersten Mal. Und jedes Jahr auf’s Neue.

Gedeckter Frühlingstisch für die Gäste, invertierte Fotografie RW, kurz vor Ostern 2024