Historie und Jahrmillionen

Gestern Abend besuchte ich den neuen Standort meiner Arbeit Sternberger Kuchen mit Fluorit. Sie hat ihren Platz gefunden an einer großen Fensterfront, die das weite Atrium eines besonderen Hauses umschließt. Das einstöckige, von außen schlichte Haus wurde 1953 von dem Architekten Hans Schwippert (1899 – 1973) erbaut. Hier hatte der ehemalige Direktor der Kunstakademie Wohnung und Atelier. Im Atrium findet man noch die Original-Bodenfliesen mit zum Teil farbigem, floralen Dekor. Viele Details des Hauses sind erhalten – ungewöhnlich hohe, schmale Türen verbinden die um den Innenhof gelegenen Räume. Die Türklinken sind sehr niedrig angebracht. Auch die originalen Dreh- und Kippschalter für das Licht befinden sich knapp unter Hüfthöhe. Das Haus, das durch die Architektur des Bauhauses (Schwippert war mit Mies van der Rohe gut befreundet) geprägt ist, steht auf einem Eckgrundstück nahe des Rheins und hat zu den Straßenfronten nur kleine Fenster, währen die Fensterfront rund um das Atrium fast die volle Höhe des Hauses erreicht.
Wir waren eingeladen zum Abendessen, der Hausherr und Gartenfreund hatte bis kurz vor unserem Eintreffen noch im Vorgarten seine neuen, seltenen, englischen Rosen eingepflanzt. Die großen gelbroten Tulpen und weißen Narzissen im Innenhof, die er schon bei Einzug in hohe Töpfe gesetzt hatte, waren voll aufgeblüht – kurz vor dem Verblühen. Der Tag unseres Besuches war ungewöhnlich warm, so dass wir uns – sehr sommerlich – im Atrium zu einem Aperitif setzen konnten.
Nun schaut meine Arbeit in das Atrium und gleichzeitig in den Essraum auf die große Tafel. Darauf lagen zehn große Zitronen in langer Reihe in der Mitte des Tisches. Auf Mallorca selbst gepflückt und mitgebracht. Eine Tarte au Citron gab es dann folgerichtig zum Nachtisch.
Das ca. 23 Millionen Jahre alte Sandgestein mit den zahlreichen Fossilresten, bekrönt mit einem zitronengelben Fluorit, ist nicht mehr meins und behauptet sich jetzt in dem 50er-Jahre-Haus. Unsere Gastgeber sind noch dabei, ihren in Jahrzehnten gesammelten Kunstwerken geeignete Plätze zu geben, erst vor ein paar Monaten sind sie in das schöne Haus eingezogen. Das Holzrelief mit dem Fede-Motiv von Stephan Balkenhol, zwei ineinander greifende Hände, direkt an der Wand hinter dem Esstisch, kam mir gestern Abend vor wie ein Zeichen der Vergewisserung von Dauer und Treue, die über Millionen Jahre hält. Und – ich trug gestern Abend, ohne zu wissen, dass ich hier auf den Balkenhol treffen würde, meinen goldenen Ring von 1830, der das Fede-Motiv auf seinem Mittelstück trägt – darunter ein kleines Geheimfach.

«Sternberger Kuchen mit Fluorit» in neuer Umgebung, Fotografie RW, 6. April 2024
Die Arbeit ist auch abgebildet im Buch «Kostbare Sockel für seltene Dinge», Salon Verlag Köln 2021