Öffentliche Beichte

Auf ein Interview mit Boris Groys in der Süddeutschen Zeitung vom Montag machte meine Schwester aufmerksam – ein für mich wichtiges Interview über die neuen Technologien und wie diese schon seit geraumer Zeit Menscheit, Gesellschaft und Kunst verändern. Groys spricht da auch von den Social Media als «pervertierte religiöse Praxis», die Menschen beichten «auf Social Media ihr Leben», aber ohne Aussicht auf Absolution. Mir scheint der Begriff Beichte hier nicht ganz passend, zu ihr gehört das Sich-Bekennen – in den social media handelt es um ein Sich-Preisgeben, öffentliches Zur-Schau-Stellen von Essen, Mode, Reisen, Lifestyle – das trifft in meinen Augen nicht das, was Beichte meint. Die Ohrenbeichte zum Beispiel ist das Bekennen von Verfehlungen (Sünden), es wird Wahrheit (im besten Falle) ausgesprochen vor nur einem Zeugen in einem geschützten Raum. Absolution wird erteilt. In der Historie der Kirchen hat es wohl auch öffentliche Beichten der versammelten Gemeinde gegeben, man müsste da genauer nachforschen. Das Confiteor, Schuldbekenntnis, ist in die heilige Messe integriert und die Christen beten es im Vaterunser. In modernen Zeiten kann der Papst sogar einen vollkommenen Ablass aller Sünden mit dem apostolischen Segen Urbi et Orbi über das Fernsehen und Internet aussprechen, auch ohne dass vorher der Zuschauer seine Verfehlungen auflistet.
In den Social Media geht es um das in Einsamkeit vorbereitete Sich-Zeigen vor Vielen.  Man kann ein Image aufbauen, gleichzeitig Exhibitionist und Voyeur sein. Es wird eine ausgewählte, bearbeitete Wahrheit gezeigt, die oft über den Autor, die Autorin mehr verrät, als ihm/ihr lieb ist. Das wäre dann eine unfreiwillige Entblößung, eine Beichte (?), aber kein bewusstes Schuldbekenntnis… Wie meint es Boris Groys? Er sagt: «Der Wunsch, sich die Last des Erlebten von der Seele zu reden ist sehr groß. … Das sind Glaubensbekenntnisse…» Im Glaubensbekenntnis ist von der Vergebung der Sünden die Rede, gut es ist ein Bekenntnis zum Glauben, aber eine Beichte?
Das Fatalste, wie auch im Interview angesprochen, ist der Ausverkauf der Persönlichkeit und Privatheit des Users an Tech-Großkonzerne, die sein Profil beobachten und zu ihrem Profit vermarkten, ohne dass der tägliche Ideengeber, der stundenlang ohne Lohn die Social media füttert, davon etwas abbekommt.
Das ist die eine negative Seite, die andere, für mich wertvolle, ist, über Social Media, neue Arbeiten von Künstlern weltweit zu entdecken, Ausstellungen und Museen virtuell zu besuchen und die Kunstwerke so genau wie nie zu sehen, aktuelle Forschungergebnisse der Wissenschaften zu erfahren, blitzschnell und gleichzeitig, all over the world.

«Sündenregister», Exponat aus der Ausstellung «Suisse Primitive» Geister, Bann, Magie und Sagen im zentralen Alpenraum, Schwyz, CH, 27. Juli bis 17. November 2002, Fotografie RW 2002
Süddeutsche Zeitung vom 7. Dezember 2020, Gespräch Peter Laudenbach mit Boris Groys «Social Media, die „pervertierte religiöse Praxis“»