Nähe


Vor dem leibhaftigen Farbkasten des genialen Malers Gustave Moreau stehend, frage ich mich, ob hier noch Spuren seines Lebens erhalten sind. Eine Wimper oder Hautschuppe des Künstlers. Oder noch winzigere DNA, für das menschliche Auge nicht sichtbar, nur mit dem Elektronenmikroskop erfassbar. Was könnte angesichts dieser Spuren erforscht werden, welche Gene der Maler hatte? Wo kam die Familie her, wer sind die Nachfahren, sind da auch Künstler dabei? Welche Farben benutzte er? Waren sie giftig? Welche Vorlieben bei der Ernährung hatte er, welche Krankheiten, wie war das Pariser Klima zu seiner Zeit? (Gustave Moreau – 6. April 1826 in Paris; † 18. April 1898 ebenda) Arbeitet die Gustave-Moreau-Forschung an solchen Themen? Ich denke bei meinem Empfinden angesicht des alten Farbkastens eher an die Rezeptionsforschung, insbesondere an das Stendhal-Syndom oder Florenz-Syndrom, wenn Kunst zu nah wird… Stendhal schreibt um 1817 «Ich befand mich bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer, deren Gräber ich eben gesehen hatte, in einer Art Ekstase. […] Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen; in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.»*
In dem großen Atelier und ehemaligen Wohnhaus von Moreau in Paris atmet man heute noch den Geist des 19. Jahrhunderts und die Spuren der Vergänglichkeit sind zum Glück nicht beseitigt. Hoffentlich bleibt das so und das Museum wird nicht renoviert, mit Displays und anderem störenden Schnickschnack versehen. Hier kann man das umfängliche Konvolut von Malereien und Skizzen studieren, zum Teil in riesigen Planschränken gelagert. In einigen Räumen sind auch persönliche Dinge erhalten. Chinesisches Porzellan, eine Krügesammlung, Andenken von seinen Reisen nach Italien und Griechenland, ein großer Glassturz mit funkelnden exotischen Vögeln – Kolibris, Kleinspecht, Pitta und Gimpel auf mit Papierblüten und -blättchen bestückten Zweigen – so überladen und schillernd wie viele Gemälde des Künstlers.
Im Augenblick ist das Museum noch wegen Corona geschlossen.

Im Musée National Gustave Moreau Paris, Fotografie Jan Kolata 2017
* Stendhal: Rom, Neapel und Florenz In: Stendhal: Gesammelte Werke (Hrsg. Manfred Naumann). Rütten und Löning, Berlin 3. Auflage 1985, S. 229 f.