Glaube Hoffnung Liebe

Vorgestern hatte die steinalte Sophia die alten Kartons auf dem Speicher nach fünf Jahren zum ersten Mal geöffnet. Hier verwahrte sie die hastig zusammengepackten Dinge der verstorbenen Großtante. Nur kleine Dinge – Etuis aus weichem Leder, Fotografien, Briefe, auch Rechnungen. Und ein altes Kästchen mit Knöpfen und Garnrollen. Die Garnrollen trugen die Aufschrift Massard Frères St. Étienne. Die Großtante hatte eine Zeit lang in Lyon gelebt, daher das französiche Garn? Zwischen den Knöpfen lag ein glatt polierter, grauer Stein mit deutlicher Quarzäderung, fast wie auf einem Efeublatt. Sophia kam das Bild des heiligen Stephan in den Sinn, einen Stein in seinen Händen haltend – Zeichen dafür, dass man ihn für seinen Glauben steinigte. Ganz unten am Boden des Kästchens bemerkte sie ein dunkles Seidenband, wollte es hervorziehen, musste mehrmals ziehen – da öffnete sich ein mit grünem Samt ausgeschlagenes, verborgenes Fach. Darin lag ein silbergraues Kreuz mit schwach funkelnden Steinen besetzt. Wie schön, dachte Sophia, das gehörte vielleicht zu einem Rosenkranz. Sie nahm es vorsichtig auf und zeigte es am anderen Tag dem indischen Prinzen, der schon einen wertvollen Ring der Großtante hatte reinigen und umarbeiten lassen. Das ist ein goldenes Kreuz, mit Platin belegt und die Steine darauf sind Diamanten, erkannte der indische Prinz sofort, wer weiß, warum die Großtante es versteckt hielt. Mit der Lupe betrachtet, sah man den Schmutz der Zeit, der sich auf den Steinen und in den Tiefen der Rückseite festgesetzt hatte. Außerdem entdeckte der Prinz, dass drei winzige Diamanten fehlten. Einer oben über dem großen Mittelstein und zwei am Fuße. Drei, dachte die steinalte Sophia bei sich, das sind Glaube, Hoffnung und Liebe.

Efeu und Usambarablätter, invertierte Fotografie RW, August 2021
Diamantkreuz der 20er Jahre, invertierte Fotografie RW, August 2021