Finderlohn


In Paris trug der indische Prinz zur Eröffnung der Kunstausstellung an der Rue du Faubourg SaintHonoré eine kleine Brosche am Kragen seines Samtmantels. Auch am nächsten Tag zum Besuch des Musée Nissim de Camondo schmückte sie sein Revers. Am Morgen des dritten Tages jedoch erinnerte er sich nicht mehr, ob er sie am Vorabend wie gewöhnlich vom Mantel abgenommen und wieder in den Hotel-Tresor gelegt hatte. Voller Sorge suchte er das Zimmer ab, schaute unter das Bett, in die Schränke, ins Bad – die nur 2cm große Edelsteinfliege war verschwunden. Dann er ging die Wege ab, fragte den Rezeptionisten des Hotels, beschrieb die Brosche in der Galerie, im Museum und in dem koreanischen Restaurant, wo er mit Freunden noch tief bis in die Nacht getafelt hatte. Die kleine Fliege blieb verschwunden. Vielleicht muss ich sie aufgeben, dachte er, was ist all der Tand wert. Je älter ich werde, um so mehr wird mir bewusst, wie endlich alles ist. Wertvoll ist doch nur die Tatsache, dass ich hier in der großen Stadt nach langer Entbehrung so viele Dinge mit allen Sinnen erleben durfte. Abends im Hotel, als er die neuesten Nachrichten über den Krieg in der Ukraine sah, dachte er an die Stadt Odessa. Noch 2019 war er dorthin gereist, um im berühmten Opernhaus eine Aufführung des Don Quichotte von Jules Massenet zu sehen. Die Sorgen um die Zukunft der Ukraine ließen ihn seinen winzigen Verlust vergessen. Am nächsten Morgen packte er seine Koffer, wollte noch kurz etwas auf dem Hotelnotizblock festhalten, nahm den Hotelbleistift und siehe da: unter dem Stift, in einem Spalt zwischen Glasabdeckung und Holzvertäfelung glitzerte etwas in der Morgensonne. Die Fliege hatte zu ihm zurückgefunden. Dankbar fuhr er seinen Weg nach Hause.

Edelsteinbrosche, Fotografie RW, 19. März 2022, Sammlung RW 2020