Ein Märchen

Die steinalte Sophia sagte sich im Stillen, wenn ich noch dreiundzwanzig Jahre zu leben habe, kann ich mich glücklich schätzen. Also versuche ich, jeden Tag so zu leben, als wär’s mein letzter.
Es gelang ihr nicht, sie sorgte sich um dieses und jenes wie eh und jeh. Sie ließ sich ein wenig gehen, schlief viel und dachte um so mehr nach. Jetzt im Sommer setzte sie sich am hellen Abend mit einem Gläschen Wein und dem Buch der alten Bilder ans Fenster, schaute auf den Fluss hinaus und beobachtete, wie ein Amselvater in den Rheinwiesen sein riesiges Junges fütterte. Das Buch der alten Bilder hatte sie von ihrem Urgroßvater geerbt. Alle längst verstorbenen Verwandten darin schauten sie ernst aus ihren feierlichen Kulissen an. Die Lore ruft mich, hatte ihr Bruder gesagt und starb darauf hin ein halbes Jahr später.
Die Welt draußen war laut und windig. Sie sah die Schiffe, beladen mit blinkenden Schrotthaufen auf dem grauen Fluss vorbeifahren. Wenn die schräge Sonne die Fenster der Häuser auf dem anderen Ufer erfasste, leuchteten kurz sie auf, als wollten sie ein SOS senden. Dort drüben beobachtete sie auch, wie die Kräne im Industriehafen hinter den hohen Mauern von unsichtbarer Hand geführt die Positionen wechselten. Manchmal hörte sie polternd Metallstücke fallen.
Im Wintergarten zur anderen Seite hin widmete sie sich jeden Tag den Schätzen der Sammlung ihres Onkels, die sie ordentlich in vielen, beschrifteten Kästen aufbewahrte. Heute Morgen hatte sie ein besonderes Stück, einen eisenhaltigen Limonit vom Rheinufer betrachtet. Den hatte der Onkel vor vielen Jahren aufgehoben, weil der Stein genau so geformt war wie Aladins Wunderlampe.

Fundstücke vom Rheinufer, Fotografie RW 2020