Die Uhr tickt

Im Nachmittagsdunkel höre ich das deutliche Ticken eines Uhrwerks. Ich habe sie nicht aufgezogen, die alte Tischuhr des verstorbenen Onkels. Sie steht in unmittelbarer Nachbarschaft des lachenden Buddha aus Keramik, wohl auch aus der Familie des Onkels, so genau weiß ich es nicht mehr. Die Uhr fing am späten Nachmittag einfach so an zu ticken, der Sekundenzeiger flitzt herum. An seinem Ende eine Mondsichel. Auf ihrem Ziffernblatt ist es halb eins. Als die Zeiger auf fünf vor eins standen, fotografierte ich die Uhr. Jetzt gehe ich noch einmal hin, um nachzusehen. Sie zeigt halb zwei. Der Buddha lacht aus vollem Hals.
In meiner Zeit ist es längst Abend und ich lese in Edmund de Waals neuem Buch Camondo, Eine Familiengeschichte in Briefen. Der Autor nähert sich in imaginären Briefen der Familie Camondo in Paris und damit auch der seiner Ahnen. Er erreicht das auch – durch die fast magische Befragung der Dinge, die er vor Ort aufsucht.
Im Bauch des Buddha befindet sich ein Geheimnis. Meine drei jüngeren Geschwister haben vor Jahrzehnten einen winzigen Zettel mit einer schriftlichen Botschaft durch seinen offenen Mund geschoben. Niemand kann sie mehr lesen, ohne den Buddha zu zerschlagen.
Die Uhr des Onkels gehörte schon seinen Vorfahren, schade, dass ich ihren Glockenschlag (nach ihrer Zeit – der vollen Stunde eins und zwei) eben nicht hören konnte. Das müsste ein erfahrener Uhrmacher richten.

Uhr und Buddhafigur der Vorfahren, Fotografie RW, Sammlung RW, 2021
Edmund de Waal, Camondo, Eine Familiengeschichte in Briefen, Paul Zsolnay Verlag, 2021. Dank an A.L., die mir das Buch vorweihnachtlich schenkte.