Das Märchen von den 23 Ringen

Der indische Prinz erzählt am zweiten Tag des Neuen Jahres ein Märchen. Die Geschichte von den 23 Ringen. Und die geht so – Eine alte Frau erinnerte sich an die Erzählungen ihrer Großtante, die vor der Flucht aus besetzten Gebieten im Wald hinter dem Garten des großen Hauses wertvolle Silberbestecke, Porzellan und auch Schmuck vergraben hatte. Lange, lange hatte sie darüber geschwiegen, aber als es wieder möglich war, in diese Gebiete zu reisen, schickte sie ihren Großneffen, um nach dem Rechten zu sehen. Sie hatte sich die genauen Koordinaten der Vergrabung aufgeschrieben. Der Großneffe, ein Abenteurer, der schon in den vergangenen Jahren in Afrika einheimischen Hirten einen großen, zentnerschweren Stein abgeluchst hatte – wie sich später herausstellte ein sehr seltener, kostbarer Eisen-Meteorit – machte sich mit Metalldetektor und Schaufel auf den Weg in den Osten des Nachbarlandes. Dort angekommen sah er, dass das ehemalige Waldgebiet grau und leer war. Große flache Gruben hatten sich im Regen mit Wasser gefüllt. Verrostete Bagger verloren dazwischen und die eingeschlagenen Fenster der verlassenen Baubuden zeugten von Einbruchsversuchen. Den Großneffen schreckte das alles nicht ab, er begann sogleich, wenn immer ein Signalton seines Detektors ertönte, mit seinem Spaten zu graben. «Aber so dumm bin ich nicht, wenn hier Bagger zugange waren, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, hier noch etwas zu finden», sagte er sich und musste am Abend den Ort mit leeren Taschen verlassen. Nachts aber hörte man bei den Gruben unruhiges Rascheln und leise Gespräche. Zwei Illegale aus Afrika hatten sich in einem Bauwagen ein notdürftiges Lager aufgebaut und auf dem Gelände nach Verwertbarem gesucht. Dabei hatten sie einen Holzkasten gefunden, den sie im Schutze der Nacht aufbrechen wollten. Sie hatten kein Licht, aber als der Mond kurz zwischen den Wolken aufschien, schimmerte es im Innern der aufgebrochenen Kiste. Weiße Stoffe umhüllten ein längliches Päckchen und als sie es aufrollten, blinkte ihnen das tausenjährige Funkeln seltener Steine entgegen. Sie zählten dreiundzwanzig kostbare Ringe mit Rubinen, Smaragden, Saphiren und Diamanten besetzt. Am nächsten Tag verkauften sie ihren Fund an einen Hehler der Stadt am östlichen Meer. Nur den silbenen Ring mit dem Zeichen des Ankers behielten sie. Er sollte ihnen Glück bringen bei ihrer Fahrt über das Meer hin zu den Ufern eines freien Landes.
Nachdem der indische Prinz das letzte Wort gesprochen hat und es dunkel geworden ist, öffnet er eine silberne Schatulle und zeigt seinen Zuhörern die kostbaren Ringe aus dem Märchen. Wie farbige Blitze schießen die Feuer der Diamanten und edlen Steine im schwachen Licht der Kerzen hin und her. Auf welche Weise er an die Ringe gekommen war, behält der indische Prinz für immer für sich.

Blick in die Schmuckschatulle, invertierte und digital manipulierte Fotografie RW, am letzten Tag des Jahres 2022