Der Besuch der Tauben


Da kommen mich auf dem Balkon immer wieder zwei Tauben besuchen, hörst du sie, sie rufen gerade? Ja, ich höre sie deutlich, das ist doch was – ich bin etwa 350 km weit von dir entfernt, aber kann deine Tauben hören. Ja, sie haben so schwarze Kräjelschen und bekommen bei mir Futter. Das sind wohl Türkentauben, sehr hübsche Vögel, zierlicher als übliche Tauben. Sind sie hell mit schwarzem Ringel um den Hals? Ja, sie haben so schwarze Kräjelschen. Und eins muss ich dir erzählen. Neulich saß ein ganz winziger Spatz auf dem Balkongeländer und dann kam eine der beiden Tauben, sie flog nicht, hüpfte nicht, nein, sie ging Schrittchen für Schrittchen über den schmalen, wie heißt das am Geländer? – Handlauf – auf das kleine Vögelchen zu und dann beugte sie sich zu ihm hinunter, das Spatzenkind sperrte den Schnabel auf und sie gab ihm etwas hinein, dann ging sie wieder zum Futterhäuschen, kam wieder zurück immer schön Schritt für Schritt und fütterte das Vogelkind. Das wiederholte sich achtmal. Das war so schön.  Hoffentlich ist aus dem Jungen was geworden? Ich weiß nicht, das konnte ich dann nicht mehr verfolgen.
Als die 98-jährige Tante das Wort Kräjelschen mehrfach aussprach, sie in den rheinischen Dialekt ihrer Kindheit fiel, obwohl sie schon sehr lange in der Nähe von Heidelberg lebte, da war’s der steinalten Sophia zuviel. Sie konnte vor Rührung nicht weiter sprechen und verabschiedete sich mit rauer Stimme von der Tante.

Federwolke in Unkel am Rhein, Fotografie RW, 3. August 2022