Zuviel des Guten am seltenen Tag

Dicke Blutstropfen, gemacht aus kostbaren Rubincabochons, quellen aus dem grünen Kopf und kleinere aus dem blassen Leib des Drachen, den der heilige Georg tötet. Das Untier liegt auf dem Rücken, sein Panzer, seine Krallen, sein Schweif sind mit Smaragden und grüner Emaille bedeckt. Aus der Halswunde perlen Blutströme von Rubinkristallen. Das Pferd des Ritters ist aus rosafarbenem Chalzedon geschnitzt, sein Harnisch weiß emailliert und über und über mit Rubinen und Diamanten geschmückt. Die Rüstung des Ritters ist blau emailliert, gerahmt in Gold und unzähligen Diamanten. Aus klarem Bergkristall glänzt das Schwert des Ritters. Die prachtvolle Gruppe thront auf einem ebenso üppig verzierten, goldenen Reliquiar.
Ich wusste in der Schatzkammer der Münchner Residenz nicht, wo ich meine Augen lassen sollte. Der Blick schmerzte ob der vielen kostbaren Wunderwerke. Die Diamanten funkelten bei jeder Bewegung des Auges. Die geschnittenen Achate, der durchscheinende Chalzedon, die Rubine, Saphire, Smaragde, das Gold, die feinen Emailarbeiten, die schimmernden Perlen und Muscheln, die Schnitzereien aus Elfenbein und Korallen wollten alle wahrgenommen werden. Wie konnte ich meinem Gehirn sagen, schau alles in Ruhe an, nacheinander, du musst nicht alles auf einmal erfassen. Es ging aber nicht so, wie ich es wollte. Alles schien nur für mich zu sein, Distanz war verschwunden, alles nur für mich. Und nicht nur, weil ich keine Zeit mehr hatte, von Vitrine zu Vitrine zu gehen – der Zug fuhr in zwei Stunden und ich musste noch von der Residenz zum Bahnhof gehen – auch in fünf Stunden hätte ich den Abstand nicht zurück gewonnen. Der Zähler des Smartphones kam an diesem seltenen Tag auf 18795 Schritte.

„Die Georgsstatuette wurde, wahrscheinlich nach Entwurf von Friedrich Sustris, als Reliquiar für eine Sankt Georgs-Reliquie geschaffen, die 1586 Erzbischof Ernst von Köln seinem Bruder Herzog Wilhelm V. nach München sandte. Im 17. Jahrhundert wurde die Statuette bei hohen Feiertagen auf dem Altar der Reichen Kapelle ausgestellt. Das bärtige, aus Buchsbaumholz geschnittene Gesicht des Heiligen hinter dem beweglichen Helmvisier trägt die Züge des Stifters, Herzog Wilhelms V.
Statuette des Ritters Sankt Georg (Gold, Email, vergoldetes Silber, Diamanten, Rubine, Smaragde, Opale, Achat, Chalzedon, Bergkristall und andere Edelsteine, Perlen; Höhe 50 cm) München, zwischen 1586 und 1597″

Zitat: https://www.residenz-muenchen.de/deutsch/skammer/bild08.htm
Fotografie RW vom 28. 2 2024, gewidmet dem 29. 2. 2024