In größter Ferne

Echte Kamille wächst dort mitten auf dem Weg. Das muss intensiv geduftet haben. Oder ist es doch eine wilde Margerite? Ganz hinten glaube ich noch lila Fingerhut zu erkennen, übermannsgroß und auch gelbe Blumen, die ich aber nicht einordnen kann. Meine Mutter und meine drei kleinen Geschwister sind winzig inmitten der Blumen zu sehen. Sie blinzeln in die Sonne. Mein Vater fotografierte mit dem Sonnenstand im Rücken, wie es sich gehört. Das alte Dia scheint ein wenig überbelichtet. Die Gesichter der Kinder sind so blass wie ihre Hemden, Blusen und Kleidchen. Ihre Mimik kann man nicht erkennen. Hat der Vater ungeduldig zum Foto aufgerufen? Bleibt mal stehen! Meine Mutter scheint zu lächeln. Sie trägt ein selbstgeschneidertes grünes Dirndl mit rosa Schürze. Die zweitjüngste Schwester hat ein große Tasche vor dem Bauch. Was haben sie darin mitgenommen? Ein paar Butterbrote? Oder nur ein paar Bonbons, Taschentücher und einen Feldstecher? Wahrscheinlich hatten sie eine leckere Mahlzeit in der Pension gegessen, so dass sie keinen Proviant brauchten. Der Bruder trägt eine kurze Lederhose. Die jüngste Schwester hat einen Wanderstock dabei. Die nahmen sie eigentlich alle auf die Wanderung mit, aus gebogenem Wurzelholz mit vielen Stocknägeln, schöne Schildchen aus dem Schwarzwald und von anderswo. Heute stehen mindestens acht Wanderstöcke der Familie bei mir in einer Ecke. Ich fand sie zu schade zum Wegwerfen. Das Foto muss in den 60er Jahren im Schwarzwald aufgenommen worden sein. Es war sicher ein schöner Sommertag, gerade richtig für einen Spaziergang den Waldrand entlang. Ich war nicht dabei, es ist mir aber alles sehr vertraut.

Im Schwarzwald, Fotografie Archiv RW