Gleichsam gefrorne Thränen

Judith Schalansky schreibt in der FAZ vom 8. Dezember. Es ist ihre Dankesrede anläßlich der Wilhelm Raabe Preisverleihung. Schon lange verfolge ich die von ihr herausgegebenen, ausgezeichnet gestalteten Bücher in den Naturkunden bei Matthes und Seitz. Als Autorin hatte ich sie bislang noch nicht berücksichtigt. Wie sehr verwandt allerdings unsere Vorlieben sind, wurde mir nun verblüffend klar, als ich diese Rede las. (Danke für den Hinweis, Klaus Seitz!) Sie beschreibt darin sorgfältig das Inventar eines Kunstkammerschranks aus Braunschweig und bei der Lektüre des Musaeum Clausum von Sir Thomas Browne, Arzt und Philosoph des 17. Jahrhunderts, ist sie auf abstruse Listen der seltsamsten Dinge gestoßen. Auch in Wilhelm Raabes Werken fand sie wunderliche Einzelheitenbeschreibungen. Hier trifft Judith Schalansky meine Vorliebe für die 23:
Der Magister Noah Buchius in Das Odfeld führt in seinem Kabinett unter Nro. 23. : Ein barbarisch Horn vom Urochsen, Bos primigenius, auch Wisent genannt. Ehedem von den Barden beim Gottesdienst und in der Bataille zum Tuten gebracht. Dieses hiervorhandene Exemplar soll sich im Kuhhirtenhause zu Lenne hinter dem Till vorgefunden haben. NB. mir von denen Herren Primanern zu meinem Geburtstage zugetragen und dediciret.
Ich habe sofort in meinem Buch von Umberto Eco Die unendliche Liste (2009) nachgeschaut, ob er auch das Musaeum Clausum von Browne oder Wilhelm Raabe erwähnt. Nein, das nicht –aber ähnliche Schätze – in diesem für Sammler und Archivierer so herrlichen Nachschlagewerk finden sich unter Wunderkammerinventaren auch Listen aus der Literatur und bildenden Kunst. Eco schreibt aber selbst im Vorwort, dass er nicht alles aufnehmen konnte, dass er seine Sammlung von Aufzählungen als Undsoweiter-Listen sieht.
Nun habe ich gesehen, dass Sir Thomas Browne an anderer Stelle wunderbare Steinbeschreibungen verfasst hat. In seiner Untersuchung Pseudodoxia Epidemica, beschreibt er unter anderem in sechs Büchern, was es an Irrthümern über Mineralien, Gewächse, Thiere, Menschen, Bilder und Gemälde, Welt= und Geschicht-Beschreibungen gibt. Übersetzung Christian Peganium (Ratner) 1680, Frankfurt und Leipzig, Christoff Riegeln Verlag. Daraus zitiere ich eine besonders schöne Stelle:
Der 173. Satz
Doch ist von den Edelgesteinen eine andere Meinung zu faßen: denn dieselben schöpfen ihre Formen aus den klaresten Quellen des Himmels und der Sonnen/ und ihre Körper sind die allersaubersten Tröpfflein des aufs höchste gereinigten/und mit himmlischen Einflüßen geschwängerten /Thaues/und gleichsam gefrorne Thränen des Himmels: daher sie sehr viel und hohe Tugenden in sich begreiffen.

Das Wort Kristall, aus dem Griechischen (κρύσταλλος) kommend, bedeutet bekanntermaßen Eis. Man glaubte, Bergkristall sei gefrorenes Eis, was in tiefsten Temperaturen entstanden, nicht mehr schmelzen könne. (auch darüber spricht Browne in seiner Abhandlung) Ganz so unrecht hatten die Alten nicht. Nur war auch Hitze im Spiel. Nach vulkanischen oder tektonischen Vorgängen kommt es durch die Abkühlung von hydrothermalen Lösungen zur Abscheidung von SiO2 an den Wänden von Klüften, Gängen oder in rundlichen Hohlräumen (Geoden) und es können sich bei genügend Raum sogar freistehende oder kopfüber wachsende Bergkristallnadeln mit schönen Spitzen bilden.

Quarz, Chlorit, Calcit, Länge des prominenten, wasserklaren Bergkristalls, circa 4,5 cm, Stufe aus der Tiefe des Berges, NEAT-Tunnel-Baustelle, Amsteg, 2003