Die junge Frau

Die steinalte Sophia war so glücklich, am Ufer des Rheins leben zu dürfen. Das wurde ihr heute morgen wieder bewusst, als sie von ihrer Küche aus durch die geöffneten Türen, in einer Flucht durch den Flur den vorbeifließenden Fluss sah. Sie setzte sich dann in der Bibliothek genau vor die Rheinfront, sortierte wie gestern weiter die alten Fotos aus ihrem Archiv und sah das Schiff INGE vorbeifahren. Sie dachte an ihre längst verstorbene Mutter, deren Freundin Inge im Rhein kurz nach dem Krieg ertrunken war.
Da hielt sie ein Foto einer ihrer Tanten in Händen. Anfang der 50er Jahre hatte die Schwester ihrer Mutter in einem Februar geheiratet, vielleicht ist jetzt Mai und eigentlich sollte die junge Frau sich doch freuen, ihre Mimik ist im Profil wohl nicht zu sehen. Sie wendet sie sich ab. Und ein Zweig berührt scheinbar ihren gesenkten Kopf. Dieser trägt Blätter, die anderen Zweige des Baumes nicht, jedenfalls soweit man es auf dem Foto sehen kann. Immerhin entdeckte die steinalte Sophia einen kleinen Blumenstrauß hinter der Windschutzscheibe. Zu ihrem Bedauern blieb die Tante kinderlos. Das Auto gehörte ihrem jungen Ehemann. Er hat das Foto wohl gemacht. Seine Kodak Retina, samt Objektiven, Filtern und Gebrauchsanweisungen liegen bis heute in Sophias Archiv. Das glänzende Auto mit dem Kennzeichen der britischen Besatzungsszone (?) ist wohl das eigentliche Motiv des Onkels. Hatten sie nicht beide, Onkel und Tante, bei dem von den Engländern verwalteten Düsseldorfer Flughafen gearbeitet?

Familienfoto der Tante L. um 1953, Archiv RW, 31. Januar 2024