Der gute Hirte von Goa

Der indische Prinz muss ein paar Tage in Quarantäne bleiben. Er muss sich keine Sorgen machen, es sind reine Vorsichtsmaßnahmen. Um der Trübsal zu entkommen, begibt er sich in seine Bibliothek. Ganz besonders gern studiert er heute den Pastor bonus aus dem indischen Goa. Diesen findet er in einem kostbaren Buch über Bergkristall. Der gute Hirte sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen auf einem Kissen. Seinen Kopf stützt er in die rechte Hand. Auf der Schulter kauert ein kleines Tier und seine linke Hand umfasst ein weiteres Tier, das auf seinem Schoß sitzt. Die Tiere sehen seltsam aus. Sollten es Schafe sein? Durch einen mehrstufigen Sockel wird die gesamte Figur erhöht. Alles ist von einem unbekannten Steinschneider aus Bergkristall geschnitten. Aus puren Gold sind die kordelartigen Verzierungen an seinem Gewand, dann folgen Bänder besetzt mit Rubinen, Saphiren und Smaragden. Die Gürtelschließe besteht aus einem kompliziert geschlungenen Knoten. Ganz besonders gefallen dem indischen Prinzen die goldenen Sandalen des Hirten, deutlich ist zu sehen, wie ein Goldsteg den großen Zeh von den übrigen trennt. Wie gern würde er dieses schöne Objekt einmal in Wirklichkeit sehen. Aber nach London reisen, um die Wallace Collection aufzusuchen, darf er zur Zeit nicht. Das Kissen, auf das sich der gute Hirte stützt, erinnert ihn in der Form an eine große Meeresschnecke. Diese Vermutung könnte er besser vor dem Original überprüfen. Als der Schnitzer das kleine Objekt schuf, etwa um 1600, war Goa portugiesische Kolonie und das christliche Motiv des Guten Hirten wurde von den die Händler begleitenden Missionaren in der heimischen Bevölkerung verbreitet. Es freut den indischen Prinzen, dass sich die Ähnlichkeit zu einem sitzenden Buddha nicht verleugnen lässt.

https://www.wallacecollection.org/art/collection/collection-highlights/good-shepherd/
Anton Legner, Faszination Bergkristall, Greven Verlag Köln, 2021