Das Gedicht des Kindes

Und das war so:
Ich las in der Zeitung einen Beitrag des Schriftstellers Guntram Vesper über die Erinnerungen an sein Groß-Elternhaus in Ostdeutschland, das er schon früh verlassen musste, weil die Familie in den Westen floh. Nach 65 Jahren fährt er zurück nach Frohburg in sein Geburtshaus. Wie an anderer Stelle berichtet wird, soll er schon als Schulkind der ersten Klasse Texte verfasst haben, genannt erstes und zweites Weltgedicht.
Sofort erinnerte ich mich an meine eigene Kindheit, wie ich im Traum ein Lied erfand, eine Wendeltreppe auf- und absteigend. Geh ich in die Welt hinaus, geh ich in die Welt hinein. Dies sang ich mit einer einfachen Melodie.

Es ist doch so:
Wenn die Schriftsteller von den Dingen ihres eigenen Lebens erzählen, sind sie für mich am berührendsten. So auch bei Vespers Artikel. Er formuliert sehr knapp, fast so wie man jemandem etwas unmittelbar erzählen will und sich nicht mit Nebenschauplätzen aufhalten oder durch Ausschmückungen beindrucken will. Mir gefiel das und ich werde mir sein Buch «Frohburg» kaufen, um mehr über ihn zu erfahren.
Bei der Lektüre von Hanns-Josef Ortheils Büchern widerfährt mir Ähnliches. Zuletzt in «Die Mittelmeerreise» und in «Wie ich Klavierspielen lernte». Beide schönen Bücher handeln unmittelbar von seinem Leben. In seinem Blog spricht Hanns-Josef Ortheil vom Lebensbuch dieses Herbstes (Eintrag vom 3. September). Sein akutes Lebensbuch ist das bei Matthes&Seitz neu aufgelegte Exemplar von Roland Barthes’ «Über mich selbst». Wieder und wieder hat er es gelesen, Anmerkungen will er hineinschreiben, ja auf die blanken Passagen der Seiten sogar tagebuchartige Aufzeichnungen notieren.
So schaut man bei den anderen, was sie sagen von ihrem Erleben und erkennt sich darin wieder. Ortheil: «Sie (die Lebensbücher, Anmerkung RW) kommen mir vor wie „für mich geschrieben“, als wären die jeweilige Autorin oder der jeweilige Autor mit mir verwandt.»

Verlassene Straße, Otzenrath, Fotografie RW 2005
Geräumter Friedhof, Otzenrath, Fotografie RW 2005
FAZ von heute «Schiebetür, aufgeschoben» von Guntram Vesper