Amnesia

Zunächst einmal ist nichts anders, dachte die steinalte Sophia bei ihrem Rheinspaziergang. Die Schafe weiden, Kirchturm und Schlossturm gegenüber am vertrauten Platz, das Riesenrad dreht sich. Der Himmel grau und die Blätter fallen von den Bäumen. Ein ganz vertrauter erster November, Allerheiligen, dieses Jahr an einem Sonntag.
Morgens hatte sie die Glocken gehört, war aber nicht zur Messe und nicht auf den Friedhof gegangen. Monate schon war ihr keiner ihrer Freunde begegnet. Nur einen traf sie regelmäßig, den, der ihr ein wenig zur Seite stand bei den alltäglichen Aufgaben ihres Lebens.
Seit Tagen lebte sie wie unter einer großen Glashaube. Sie kam nicht durch, sie erreichte die Randzonen nicht, schon gar nicht das, was außerhalb der unsichtbaren Wand war. Diesen Wahrnehmungsfehler kannte sie. Vor zehn Jahren hatte sie an einem Winterabend für einige Stunden ihr Gedächtnis verloren und unaufhörlich alle Dinge in ihrer Umgebung befragt, als sähe sie sie zum ersten Mal.

Rheinufer bei Düsseldorf von der Oberkasseler Seite aus gesehen,
Fotografie RW, 1.11. 2020