18 Zeichnungen

Im Vorwort des ersten Teils von Das Echolot, Ein kollektives Tagebuch, Januar und Februar, 1943 sagt der Autor Walter Kempowski «Die Stimmen… sie sind verweht, und die Toten behalten ihre letzte Erfahrung für sich, aber ihre überall deponierten Mitteilungen können wir aufnehmen und entschlüsseln, darauf dürfen wir nicht verzichten.»
Etwa dreiundzwanzigmal hatte die steinalte Sophia eine Fotografie abgezeichnet. Sie breitete die Ergebnisse auf dem verschlissenen Teppich aus, den ihr der Großonkel einst vererbte. Die Fotografie hatte sie mit viel Mühen aus einem Papiercontainer gefischt – inmitten entsorgter Postkarten und Briefe.
Mit ihren zeichnerischen Ergebnissen war sie nicht zufrieden, immer wieder hatte sie mit schwarzer und weißer Kreide versucht, sich der Fotografie zu nähern. Abgebildet war ein junger Mann, der, an einem hohen Fenster stehend, den Betrachter ruhig anblickte, hinter ihm an der Wand ein Gemälde, wohl ein Porträt. War der auf der Fensterbank aufgestellte Rahmen ein Spiegel oder ein weiteres Bild im Bild? Sophia konnte das Rätsel nicht lösen.

Zeichnungen auf dem Teppich, Fotografie RW 2011, invertiert 2020