Am Eingang zum niederländischen Park der Hoge Veluwe bekommt man, um weiter zum Kröller-Müller Museum zu gelangen, eine Broschüre überreicht: Wat te doen als u een wolf tegenkomt?
Die steinalte Sophia hat die Warnung nicht beachtet, ist sie doch mit dem Auto unterwegs und hat auch nicht vor, großartige Gänge durch das wilde Gelände zu wagen. Sie kennt das Museum und freut sich auf die Wiederbegegnung mit Vincent Van Gogh, James Ensor, Odilon Redon, Piet Mondrian und vielen anderen. Vor allem aber auch auf Lucas Cranach den Älteren, dessen Venus mit Amor als Honigdieb sie zu ihrem Lieblingsbild erkoren hat. Als sie aber in einen Saal tritt, ist sie erschrocken. Ein schwarzes, böses Gesicht blickt auf sie hinab. Eine Fratze nicht. Die Mimik der Dargestellten ist durch ungünstiges Licht an der Decke des Museums verzerrt. Der Maler hat mit pastosem Farbauftrag gearbeitet – Brauen, Augenlider und Lippe der in Weiß gekleideten, eleganten Dame bekommen durch das Museums-Licht von oben unangenehme helle Blitzer. Sophia kann sich das Phänomen erklären, aber sie mag das Gesicht nicht ertragen, dies wird mich verfolgen, muss den Saal verlassen.
Das Porträt der Eva Callimarchi-Catargi von Henri Fantin-Latour bekam die deutsche Kunstsammlerin Helene Müller von ihrem niederländischen Mann Anton Kröller zur Silberhochzeit geschenkt. Zusammen mit Van Gogh’s Gemälde «An der Schwelle zur Ewigkeit». Ein Mann in blauer Kleidung sitzt gekrümmt und voller Kummer, das Gesicht in den Händen verborgen, auf einem Stuhl am brennenden Kamin. Van Gogh malte es im Mai 1890 in der Nervenheilanstalt. Die beiden Bilder hatte Kröller heimlich schon ab 1912 gekauft, um sie am 15. Mai 1913 seiner Frau für ihre Sammlung zu schenken. Das Porträt der strengen, fast abweisenden Dame von Henri Fantin-Latour und das Sorgenbild von Vincent van Gogh passen nach Meinung der steinalten Sophia überhaupt nicht als Geschenkpaar zusammen. Aber Helene hat sich wohl sehr gefreut, wie sie in einem Brief an Anton schreibt: der weinende Mann und die ruhige Frau seien der «sluitsteen» ihrer Sammlung, als wäre jetzt nichts mehr nötig: Was könnte das noch übertreffen?
«Loop de wolf niet tegemoet…» warnt die Park-Broschüre. Unruhig schläft die steinalte Sophia am Abend in einem Hotel bei Otterlo ein. Das Gesicht der Eva Callimachi-Catargi verfolgt sie hinein in die Abgründe zwischen Wachsein und Schlaf, einer Gegend, in der Gestalten von Krieg, Kummer und Tod wachsen.
Im Kröller-Müller Silberhochzeitsmonat und -jahr, am 29. Mai 1913, stirbt Eva Callimarchi-Catargi, die Tochter eines rumänischen Politikers in Paris und im darauffolgenden Jahr sollte der Erste Weltkrieg beginnen.