Kein wehender Vorhang

Das analoge Negativ veranschaulicht den Zusammenhang von Tod und Fotografie. Das Dunkle wird Licht. Das Lichte kehrt sich zum Dunkel. Die digitale Fotografie kennt kein Negativ, aber man kann es künstlich erzeugen.
Das von mir heute invertierte Farbdia ist aus den siebziger Jahren. Die Personen vor dem geschmückten Kirchenportal in Neapel sind längst nicht mehr da, ihre Schicksale ungewiss, vielleicht sind sie verstorben. Feierten sie eine Hochzeit oder Taufe? Sie tragen fröhliche Kleider, daher wird es keine Beerdigung gewesen sein.
Es ist die Eigenart der Fotografie, dass die Abgebildeten nicht mehr anwesend sein können, im Moment des Bildbetrachtens sind sie verschwunden. Dass auch der fotografierte Moment vergangen ist, ist eine Binsenweisheit. Das Foto ist nicht imstande Zeit anzuhalten. Es bildet von seinem Wesen her Vergänglichkeit ab.
Das Negativ hat etwas Unheimliches, wir entwickelten daraus das Positiv. Ich erinnere mich genau, wie ich vor Jahren in der Dunkelkammer fasziniert in die Entwicklerbäder schaute, wenn ein Gesicht, eine Person langsam auf der weißen Fläche des Fotopapiers erschien, immer deutlicher wurde, zum Leben erweckt wurde, wenn wir mit der Zange das Papier in der Wanne vorsichtig hin und her bewegten. Wir erschufen ein Bild der Person, sie hatte uns im Moment der Aufnahme angeschaut.

Kircheneingang in Neapel, Fotografie RW 1978, invertiert 2020
Zur Lektüre empfohlen: Roland Barthes, Die helle Kammer, deutsche Ausgabe 1985, Suhrkamp Verlag