Brieflesendes Mädchen – mit Amor

Das Bild ist nun ganz anders: hinter der jungen Frau ist das große Wandbild mit dem Amor freigelegt worden. In einem sehr aufwendigen Verfahren wurde unter dem Mikroskop Farbpartikelchen für Farbpartikelchen abgetragen. Die alte weißgraue Übermalung ist nun historisch, historisch ist aber auch, dass sie nicht von Vermeers Hand war. Als das Bild 1742 angekauft wurde, war sie schon da. Der Amor ist uns schon als Bild im Bild bei zwei weiteren Gemälden Vermeers vertraut. Im Londoner Vermeer hält der gleiche Cupido eine kleine Karte in der Hand. Diese und auch die Darstellung eines Liebesgotts mit Masken zu Füßen ist aus alten Emblembüchern bekannt. Im Emblem hält der Amor eine Karte mit der Zahl 1 hoch, auf eine Tafel mit weiteren Zahlen tretend 2 3 4 5 6 7 8 9 10 … Will sagen, nur die eine Liebe zählt. Der Amor, der im Dresdner Bild auf das Innere einer Maske tritt, meint wohl, dass jede Liebe ohne Falsch sein soll, wahre Liebe keine Verkleidung brauche. Im Emblembuch hält er jedoch auch einen Ring hoch in der Hand. Nun ist interessant, was der Amor auf dem Dresdner Bild in der linken Hand halten könnte. Einen Ring oder eine Karte? Und warum tritt er auf die innere Seite einer dunklen Maske, während die zweite goldene, halb verdeckt, richtig herum liegt. Warum verbirgt Vermeer das Bild mit dem Vorhang, der auch auf einen Raum außerhalb des Bildes verweist, das heißt, vor dem eigentlichen Bild hängt?
Ich sehe in diesem Zusammenhang den Vorhang, der das Bild ganz verhüllen könnte, die Spiegelung des brieflesenden Mädchens im Fenster und die beiden Masken in einem Motivkontext. Hier gibt es eine Analogie zwischen Innerem und Äußerem. Zwischen der Möglichkeit einerseits – Innerstes – Gedanken im Kopf – Verborgenes ahnen zu können, oder nur das Abgewandte, das Äußere, die Erscheinung einer Person betrachten zu können.

Ich freue mich auf den Katalog zur Dresdner Ausstellung, die das neue Bild feiert. Habe ihn schon bestellt, leider ist er noch nicht angekommen, bin aber so gespannt auf die Beiträge im Buch.
Es ist von einigen kritisiert worden, dass man den gewohnten Vermeer nicht in seiner seit Jahrhunderten bekannten Gestalt belassen hat. Dass der Amor anwesend ist, wusste man schon seit Röntgenaufnahmen aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Hätte man das nun freigelegte Bild nicht rein digital rekonstruieren können und den Vermeer damit nicht solchen Strapazen aussetzen müssen? Ich glaube, so ist es gut jetzt, Vermeer ist wieder der Wahre.

„Johannes Vermeer. Vom Innehalten“ in der Gemäldegalerie Alte Meister Dresden
https://www.skd.museum/besucherservice/presse/2021/ein-liebesgott-taucht-auf-vermeers-brieflesendes-maedchen-am-offenen-fenster-vollstaendig-restauriert/